Auf dem Friedhof

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Es war bereits dunkel und von der Kirchturmuhr verhallte gerade der neunte und letzte Glockenschlag. Niemand war hier um diese Zeit noch unterwegs, die Straßen der Vorstadt lagen wie ausgestorben da. Doch plötzlich schien sich im fahlen Licht der Straßenlaternen jemand schnellen Schrittes in Richtung Friedhof zu bewegen. Es war ein Junge, von etwa 16 Jahren, schlank und mit dunklen Augen und schwarzen Haaren und einem Piercing an der Unterlippe. Er trug schwarze Chucks, verziert mit pyramidenförmigen Nieten und eine enge, schwarze Röhren-Jeans, die seine Beine betonte, dazu ein schwarzes T-Shirt mit neongrünem Aufdruck.

Jonathan war spät dran; wenn er nicht pünktlich zuhause war, würde seine Mutter sich Sorgen machen. Wenn er schnurstracks über den Friedhof ging, anstatt außen herum, würde er genau die halbe Stunde Zeit sparen, die er brauchte um pünktlich zuhause zu sein. Um diese Zeit war der Friedhof natürlich schon geschlossen, doch Jonathan wusste, wo er am besten über die Mauer klettern konnte. Den Weg über den Friedhof kannte er ja und da der Mond schien war es auch nicht allzu dunkel. Er erreichte die Mauer, kletterte hinauf und sprang auf der anderen Seite wieder herab.

Er dachte nicht im Traum daran, dass sein Eindringen bemerkt worden sein könnte. Wer sollte sich auch zu dieser Stunde hier herumtreiben außer ihm selbst. Er sah sich kurz um und setzte seinen Weg fort über den Hauptweg, bog an der dritten Abzweigung nach rechts ab und folgte dann eine Weile dem geschwungenen Weg vorbei an nächtlichen Gräbern.

Einige von Ihnen waren mit Grablichtern erleuchtet, andere nicht, auf manche fiel das kalte Licht des Mondes, und einige wurden vom Schatten der Bäume liebevoll verborgen. Auf manchen tanzten die Lichter von Glühwürmchen auf und ab. Er ging weiter über den Friedhof, vorbei an gepflegten und ungepflegten, alten und neuen Gräbern, mit und ohne Grabstein.

Er kam nun in den älteren Teil des Friedhofs. Hier waren die Bäume höher, die Hecken dichter und Gräber verwitterter. Trotz des Mondscheins war es hier auch dunkler und er musste langsamer gehen, um nicht über irgendeine Wurzel zu stolpern.

Indessen war Jonathan nicht der Einzige, der nachts über den Friedhof lief. Ganz in seiner Nähe wurde sein Sprung über die Friedhofsmauer mit Überraschung und Neugier bemerkt.

Eine Nase erhob sich schnüffelnd in einem Gebüsch und zwei gelbe Augen blickten durch die Nacht in die Richtung, wo Jonathan gerade entlang lief. Der Wolf erhob sich, fletschte die Zähne, die im Mondlicht weiß leuchteten und trottete langsam aus dem Gebüsch, als hätte er sich noch nicht entschieden, was er nun tun würde. Er blieb stehen, neigte seinen Kopf und überlegte wohin der Junge wohl gehen wollte. Nach einigen Sekunden setzte der Wolf wie ein schwarzer Schatten in der dunklen Nacht seinen Weg fort, schnurstracks zu dem Punkt, wo der mit dem Jungen zusammentreffen würde.

Doch auch an anderer Stelle blieb Jonathans Ankunft nicht unbemerkt. Im ältesten Teil des Friedhofs, dort wo sogar noch einige der prächtigen und großen Grüfte von vor zweihundert Jahren standen, saß eine Gestalt. Etwas unter zwei Meter groß, kräftig mit einem muskulösen und athletischen Körper, mit schulterlangen, nachtschwarzen Haaren, gekleidet in einen schwarzen Anzug neben einer der Grabplatten, den Rücken an die Mauer einer Gruft gelehnt und blickte wie abwesend zu den Sternen empor. Nahezu überall mit Flechten und Moosen bedeckt, schien die Gruft eine der ältesten des ganzen Friedhofes zu sein. Auf der Vorderseite hatte sie eine große Platte aus schwarzem Marmor, der so hoch poliert war, dass er spiegelte. Am oberen Rand in den Stein eingegossen waren in silbernen Lettern die Worte “Gnothi Seautón“ zu lesen, darunter befand sich ein mit silberner Ornamentik umrahmtes Oval.

Auf einer weiteren Platte aus demselben Material darunter war der Name Taliesin Lefay eingelassen.

Kyrill kam seit zwei Jahren fast jede Nacht hier her. Hier fand er Ruhe und sogar ein wenig Frieden, jedenfalls solange er hier verweilte, gedachte jener mondlosen Nacht im Jahre 1813, im Tal der Mures, als die Welt in der er einst lebte, zerbrach. Er hatte sich seitdem kaum verändert. Noch immer hatte er schulterlanges, nachtschwarzes Haar, noch immer hatte er den muskulösen, athletischen Körper des 35-jährigen, der er damals war. Nur seine Augen hatten sich verändert. Einst waren sie braun, jetzt rot, und die Pupillen waren nicht mehr rund, sondern vertikal geschlitzt, wie bei einem Raubtier.

Kyrill und JonathanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt