Kapitel 9

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Ich stand vor dem Grab meiner Mutter und wortlos starrte ich es an.
Begutachtete die Worte auf dem Grabstein und ließ sie mir jedes mal wieder durch den Kopf gehen.

Es regnete wieder.
Th... Wie klischeehaft. Es regnete, als ich das Grab meiner Mutter besuchte.
Sowas gab es meistens nur in Filmen.

Wenn man so einen Film sieht, achtet man gar nicht so richtig auf die Gefühle der Figuren, welche eine oder gleich mehrere geliebte Personen verloren.
Erst, wenn man selbst da steht, so wie ich gerade, merkt man, was das in einem anrichten kann.

Wann ist jemand eigentlich wirklich tot? Was macht es aus, tot zu sein?
Wenn das Herz nicht mehr schlägt, würde man mir jetzt sagen. Aber was ist, wenn das Herz zwar noch schlägt, aber nicht mehr schlagen kann, weil es einfach zu sehr schmerzt?
Ich weiß die Antwort auf diese dumme Frage selbst nicht. Ich werde sie auch niemals wissen.

Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Weder weiß ich, wie es weiter gehen soll. Und am wenigsten weiß ich, was das alles hier überhaupt noch brachte.

Sora war noch irgendwo. Er könnte mich gerade in den Büschen beobachten, oder aber auch er hat die Stadt verlassen, um nicht von den Polizisten verhaftet zu werden. Für immer und ewig.

Ich drehte mich um und sah zu Boden. Ich konnte nirgendwo hin. Ich war auf der Suche nach meinem Zuhause, doch wieso war es so schwer, eines zu finden...?

Das Knurren meines Magens riss mich aus meinen Gedanken, ein kleines Seufzen entwich mir und ich verließ den Friedhof mit den leisen Worten: ,,Auf Wiedersehen, Mama...", wobei ich mir nicht sicher war, ob ich diese Worte wirklich laut ausgesprochen hatte. 

Ich hatte Mama nie erzählt, dass ich schwanger war.
Vielleicht hatte ich es selbst vergessen. 
Vielleicht wollte ich es vergessen.

Ich setzte mich an den Straßenrand, zog meine Beine an mich und ließ Leute an mir vorbei gehen und Autos umher fahren.
Wie viel Zeit verging, wusste ich nicht. Viel zu lange dachte ich nach.

Doch als mir jemand etwas hingegen hielt, wachte ich aus meinen Tagträumen auf und hob zögernd den Kopf.
Ein Junge, um die 20 Jahre alt, hielt mir eine weiße Tüte hingegen, welche ich fragend anstarrte.

,,Hier, etwas Essen für dich", sagte der Junge. Seine Stimme war tief, aber nicht zu tief. Sie beruhigte mich und ließ mich für ganz kurze Zeit alles andere vergessen.
,,Du scheinst Hunger zu haben", fuhr der Junge fort, nachdem von mir keine Antwort kam. Dabei deutete er auf meinen abgemagerten Körper und lächelte mich sanft an.
Kurze Zeit blickte ich ihn nachdenklich an und nahm dann das Essen an mich.

Erst jetzt bemerkte ich, was für schöne grüne Augen er hatte. Grün war Mamas Lieblingsfarbe. Deswegen gab es davon auch viel zuhause, meistens in Form einer Pflanze.
Seine hellbraunen Haare mit den leicht blonden Strähnen wehten im Wind etwas umher und fielen ihm dann ins Gesicht, weswegen er kurz lächeln musste, wodurch ich kurz seine strahlendweißen Zähne zu sehen bekam.

Ich wollte mich bei dem Jungen bedanken und formte deswegen meinen Mund zu einem ,,Danke" um, doch mich verließ kein Ton.
Der Junge schien zu verstehen, was ich sagen wollte, also schmunzelte er. ,,Kein Problem. Lass es dir schmecken. Vielleicht sehen wir uns ja wieder."
Damit drehte er sich um und ging weiter.

Ob er recht hatte und wir uns wirklich wiedersehen würden? Ich hoffte es. Aber irgendwie auch nicht.

𝗙𝗥𝗘𝗘 - 𝚃𝚑𝚎 𝚏𝚎𝚎𝚕𝚒𝚗𝚐 𝚘𝚏 𝚋𝚎𝚎𝚒𝚗𝚐 𝚕𝚘𝚟𝚎𝚍 || 𝑆𝑐ℎ𝑜𝑘𝑖Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt