Wolf im Schafspelz

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Valaina war bereits einige Tage unterwegs gewesen. Sie mochte es nicht sonderlich zu Fuß zu gehen, vor allem keine weiten Distanzen, und das Reich der Eglath war sehr groß, doch sie hatte keine andere Wahl. Wie sollte sie auch erklären, dass sie ein Pferd hatte stehlen können?
Ihre Kleidung war alt, zerrissen und – das hatte sie sich nicht nehmen lassen – schwarz wie immer. Von den Stiefeln löste sich die Sohle, von dem Mantel fehlte ein Großteil der Fütterung. Die Hose war ihr zu groß und mit einem Seil um die Hüfte befestigt, Handschuhe hatte sie keine. Das war eindeutig der schlimmste Zustand, in dem Valaina jemals das Haus verlassen hatte. Schon als Kind hatte sie recht hochwertige (stets weiße) Kleider getragen, die niemals dreckig geworden waren. Nun stank sie, war verschwitzt und besaß einige Schrammen und Blutergüsse, beides Verletzungen, die in ein paar Tagen verheilen würden, wenn sie nicht bald Zugehörige der Nanór fand.
Ihr Plan stand fest, sogar Maethorn hatte ihn abgesegnet. Jetzt brauchte sie nur noch ein wenig Glück.

Das Wetter hatte Erbarmen mit ihr. Es war Frühling, der Boden dementsprechend immer noch vereist, doch die Schneestürme, die zu dieser Jahreszeit immer wieder über das Sant Sereg, das Feld des Blutes, stoben, blieben aus. Sogar die Sonne ließ sich hin und wieder blicken, wenngleich sie sehr schwach und hinter einem Schleier von Wolken versteckt war.
Diese Umgebung war nach den Kriegen benannt worden, die hier immer wieder stattfanden. Blut beider Seiten hatte den Boden besudelt. Das weitläufige Feld Sant Sereg zu nennen, war wohl die einzige Sache, in der die Völker sich einig waren.
Valainas Beine hatten sich inzwischen an die Beanspruchung gewöhnt. Zu Anfangs hatte sie häufig Muskelkater gehabt, immerhin standen weitläufige Wanderungen nicht auf ihrem Trainingsplan.
Karten hatte sie keine mitgenommen und auch nur wenig Proviant. An Wasser kam sie bloß alle paar Tage heran, wenn sie an eine Quelle oder einen Bach kam. Die beiden Flüsse, die aus dem Helsîr, dem Eisfluss, zweigten, waren leider zu weit weg und ein zu großer Umweg.
Die offizielle Grenze ihres Reiches hatte sie zwar noch nicht erreicht, doch dieses Gebiet war bereits nicht mehr bewohnt und streng überwacht. Valaina hatte sich sehr genau die Einteilungen der Wachen angesehen, um nicht entdeckt zu werden. Nicht, dass sie sich nicht mehr hätte befreien können, das Problem war eher, dass sie nicht zusammen mit den Wachen gesehen werden wollte.

Erst als sie fast eine Woche später den Riwló, den Grenzfluss, der das Reich der Eglath von den Grauen Bergen abgrenzte, und viele hundert Kilometer davor aus dem Helsîr entsprang, erreichte, konnte sie Gestalten vor sich erkennen. Nun waren es nur noch einige Tagesmärsche bis zum Wald der Nanór.
Die Elbin verlangsamte ihr Tempo. Die Patrouille zählte sieben Personen auf Hirschen, die sich schnell näherten. Bis auf den Anführer, hatten alle ihre Bögen gezückt, einen Pfeil locker auf der Sehne.
Valaina blieb stehen und hob ihre Hände leicht, sodass es offenersichtlich war, dass sie keine Waffe besaß. Bis auf ihren Wurfstern, das Geschenk Maethorns, den sie nah an ihrem Oberkörper versteckt hatte, hatte sie tatsächlich auch nichts mitgenommen. Sie fürchtete eine Durchsuchung nicht. Bei ihrem Anblick würde niemand vermuten, dass sie eine Klinge versteckt hatte, außerdem, selbst wenn sie sie fanden, würden sie nichts damit anzufangen wissen. Der Wurfstern hörte nur auf ihren Befehl.

Sie wurde sofort umzingelt. Der Anführer rief Befehle in einer ihr fremden Sprache, dann blieb er vor ihr stehen, so nah, dass sie gerade noch seinen Kopf über dem des Hirsches erkennen konnte.
„Wer bist du, die aus dem Reich unserer Feinde kommt?", fragte er ernst und musterte die Elbin eingängig.
„Mein Name lautet Valaina, Tochter Valanyas, einer der Auserwählten, die vor einhundert Jahren im Grünwald gelebt haben, und von dem Blut der Nanór sind", stellte Valaina sich wahrheitsgemäß vor. Sie hoffte, dass ihr Ruf nicht bis zu den Nanór vorgedrungen war, doch warum sollte er auch? Sie hatte nie auf großen Schlachtfeldern gekämpft und anders konnte ihr Name nicht das Reich verlassen.
Der Elb hoch auf dem Hirsch kniff misstrauisch die Augen zusammen und versuchte sich an die Geschichten zu erinnern, die zu dieser Zeit ihre Runden gedreht hatten.
„Ich wurde nach der Ermordung meiner Mutter verschleppt in das Reich der Eglath, in welchem ich bis vor wenigen Wochen eingesperrt war", fuhr Valaina fort, bevor er sie unterbrechen konnte.
„Die Eglath machen keine Gefangenen", knurrte er bloß. Die Tiere um sie herum tänzelten ein Stück näher.
„Sie dachten, dass sie mit mir eine der Nanór gefangen hätten, mich verhören könnten, doch ich bin im Waldlandreich geboren und aufgewachsen, ich war ihnen keine große Hilfe. Ich nehme an, dass sie mich eines Tages als Geißel benutzen wollten", erklärte sie schnell. Natürlich hatte sie sich noch eine viel detailliertere Geschichte zurechtgelegt, doch das war nur eine Grenzwache, mehr Details als unbedingt nötig, waren es ihr nicht wert.
Der Anführer der Patrouille stieg ab und trat näher, um sie abermals zu mustern.
„Warum sollte ich dir diese Geschichte glauben? Du könntest genauso gut ein Spion sein."
„Ich bin mir sicher, dass Botschafterin Luinmír mich unterstützen wird, sobald ich mit ihr gesprochen habe. Ich war bei den Verhandlungen im Waldlandreich und sie kannte meine Mutter."
Der Elb brummte etwas widerwillig und ließ sich mit seiner Entscheidung einige Sekunden Zeit.

Das Herz einer Schwester // Legolas FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt