Abreise

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Vilya stand über den großen Esstisch in ihrem Wohnzimmer gebeugt. Auf ihm lag eine Karte – eine nicht sehr aussagekräftige Karte wohlgemerkt. Auf ihr waren die Grauen Berge, auch Ered Mithrin genannt, abgebildet, doch sie waren verwaschen, grau und undeutlich gezeichnet. An einer Stelle am Fuß des Gebirges war mit einer dünnen, feinen Linie ein Tor gezeichnet. Es war die ungefähre Position des Weges, den Vilya und ihre Freunde nehmen würden. Das war alles, was sie aus Elrohir hatte herausholen können. Er wollte nicht mit ihr reden, wollte sie nicht sehen. Er schien inzwischen zu verstehen, dass sie Legolas nicht mit ihm betrogen hatte, doch er verzieh es ihr dennoch nicht, dass sie ihm nicht gesagt hatte, dass es der Prinz des Grünwaldes war, in den sie hoffnungslos verliebt gewesen war.

Es klopfte. Ohne auf eine Antwort seitens Vilya zu warten, traten die Besucher bereits ein. Das allein genügte Vilya schon, um zu wissen, wer da gerade ihre Gemächer betrat. Niemand sonst würde wagen ihre Autorität derartig zu untergraben.
„Ich hatte mir schon gedacht, dass du einiges zu sagen hast durch deine Verbindung zu Legolas, doch das hatte ich nicht erwartet", lachte Trîwen kopfschüttelnd und legte mit einem lauten Knall die Waffen auf dem Tisch, ein Stück neben ihrer Freundin, ab. Talma war keine paar Schritte hinter ihr, beide Arme voll mit Schwertern, Dolchen, Schilden und Bögen.

„Ich meine, dass nur ein paar Worte von dir genügen, um so viele Waffen aus den Waffenkammern zu holen ist schon beeindruckend", fuhr die Elbin fort und ließ die Tür, die ihr Ehemann nicht hatte schließen können, ins Schloss fallen.
Vilya lächelte leicht und schob ihr einfach wortlos die Karte hinüber. Trîwens bisher so vergnügter Gesichtsausdruck verdunkelte sich sofort um ein Stück.
„Das ist... nicht viel", sagte sie langsam.
„Und alles, was wir haben", seufzte Vilya und richtete sich auf. „Ich könnte es verstehen, wenn ihr nicht mitkommen wollt. Die Ered Mithrin sind gefährlich, und selbst wenn wir sie überleben, ist das dahinterliegende Reich nicht weniger tödlich."
Trîwen warf einen Blick zu Talma, der sich nichts anmerken ließ. Vilya hätte das als ein schlechtes Zeichen interpretiert, hätte Trîwen nicht plötzlich zu lachen begonnen.
„So leicht wirst du uns nicht los. Oder zumindest Talma nicht und ich bleibe bei ihm", grinste sie amüsiert. Ihre Freundin sah ungläubig zu dem sonst so bodenständigen, nicht sehr abenteuerlustigen Elben.
„Seit wann denn das?", fragte sie belustigt. Er senkte peinlich berührt den Blick.
„Zeiten ändern sich", gab er zu und rutschte einen Schritt näher zu seiner Frau.

Vilya musste an seine Reaktion denken, als sie über die Schlacht am Gundabad gesprochen hatten. Wie er ihren Drang mitzukämpfen nicht hatte nachvollziehen können. Doch auch für sie hatte sich einiges seit dieser Zeit geändert, das konnte sie nicht leugnen.
„Gut, dann sollten wir uns bis morgen alle noch ausruhen. Wer weiß wie oft wir Rast machen können?", sagte sie und setzte ein optimistisches Lächeln auf. In Wahrheit hatte sie noch einige Zweifel, doch die hatten weniger mit dem Plan und mehr mit ihr selbst zu tun.

Trîwen und Talma stimmten zu und verabschiedeten sich von Vilya. Es war bereits später Abend und sie würden noch vor Sonnenaufgang aufbrechen.

Vilya ließ sich in ihren Sofasessel sinken, mit Blickrichtung auf den Esstisch, auf dem immer noch die Waffen und die Karte lagen. Proviant hatte sie schon vor einigen Stunden sorgsam in den Schränken verstaut.

Lange saß sie dort, das letzte Licht verschwand hinter den Bäumen im Westen und im Wohnzimmer wurde es dunkel. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht einmal aufstand, um Lichter anzuzünden. Ihr Kinn ruhte auf ihrer Faust und ihr Bein schlug regelmäßig gegen das Sofa unter ihr. Sie hatte das schon lange tun wollen. Doch war es wirklich eine gute Idee so überstürzt abzureisen? Nein, es war nicht überstürzt, zumindest nicht weniger überstürzt, als die Reise zum Gundabad damals gewesen war. Es ging um ihre kleine Schwester, ihre letzte Familie, sie musste das tun. Sie musste wissen, wie es ihr ging, musste wissen, ob sie in Schwierigkeiten steckte.

Das Herz einer Schwester // Legolas FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt