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Noch einmal atme ich tief ein und gehe in Richtung Haustüre. Mit grossen Schritten folgt er mir. Und plötzlich ist es mir peinlich. Peinlich, unglücklich zu sein, mitten in meinem grossen Glück. In meinem grossen Haus mit meinem grossen Garten. Mit meiner Freiheit, meinem wunderbaren Job. Und doch, fühle ich mich einsam. Alleine. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was die beiden haben durchmachen müssen. Dagegen sind meine Probleme unbedeutend. Als ob eine Speckrolle mehr oder weniger darüber entscheidet, wer wir sind, wie wir sind und welchen Stellenwert wir haben. Nein, es sind die ganz grossen Dinge, die entscheiden. Die Dinge, die für uns selbstverständlich sind.

Gedankenversunken schliesse ich die Türe auf und gebe den Code ein.

Als ich drinnen das Licht anmache, sehe ich nochmals klar und deutlich, wie dünn Logan ist. Dieser Mann überragt mich um viele Zentimeter. Ich würde aber behaupten, ich habe mehr Gewicht als er.

Stillschweigend ziehen wir unsere Schuhe aus. Und als ich zu ihm hinübergucke, erschrecke ich erneut. An diesen Anblick kann man sich einfach nicht gewöhnen. Als wären sie gerade aus einem Konzentrationslager geflüchtet. Kein Gramm Fett. Das wäre ja mein Wunsch. Wenn ich könnte, würde ich tauschen.

Die Schlüsselbeine stehen deutlich hervor und erst jetzt sehe ich auch, wie tief ihm seine durchnässten Jeans auf der Hüfte sitzen. Es ist mir fast zu lachen zu mute, denn es kommt mir vor, als wäre es ein schlechtes Drama.

Unschlüssig, was ich tun soll, stehe ich einen Moment lang im Gang da und starre ihn weiter an. Ich kann einfach nicht anders. Das weisse T-Shirt ist ebenfalls, wie alles andere, vollkommen durchnässt und klebt an seiner Brust. Er ist nicht extrem mager aber man sieht, dass er schon lange keine richtige Mahlzeit mehr zu sich genommen hat. Emily hat es sich währenddessen auf dem Boden gemütlich gemacht und scheint zu schlafen. Schluckend schaue ich wieder auf.

"Eem.." Meine Stimme klingt fern. Ich räuspere mich und schaue direkt in seine niedergeschlagene Augen. Er könnte nicht leugnen, wenn er sagen würde, er würde sich nicht schämen. Es ist ihm anzusehen. Wie zerbrechlich er wirkt. Mein Mund ist ganz trocken und ich muss mich zwingen, weiter in sein Gesicht zu schauen. Wieder versuche ich ein normaler Satz herauszubringen.

"Ich zeige euch jetzt das Zimmer." Super, ich höre mich wie eine Hotelangestellte an. "Mögt ihr Spaghetti? Das ist so das Einzige, was ich kochen kann", lächle ich peinlich berührt."

Überraschenderweise bekomme ich eine direkte Antwort. Wenn auch nur fast flüsternd.

"Spaghetti ist gut." Wie schön es ist, wenn seine Stimme erklingt. Irgendwie einschüchternd. Ein paar Sekunden lang sehen wir uns in die Augen. Plötzlich macht Emily ein Geräusch. Wahrscheinlich träumt sie irgendwas. Dass ich selber nicht noch weiter träume, mache ich kehrt und gehe auf die Treppe zu. Währenddessen werfe ich einen Blick zurück, um festzustellen, dass er mir mit Emily im Arm folgt. Die Stimmung ist angespannt.

"Ich habe noch ein paar Klamotten von meinem Bruder, die sollten dir einigermassen passen. Für Emily habe ich bestimmt auch was." Diesmal kommt nur ein zustimmendes Brummen zurück. Wenigstens etwas.

Ich mache die Türe zum Gästezimmer auf, welches sich direkt gegenüber von meinem Schlafzimmer befindet. Die Wände sind, wie überall, weiss gestrichen. Alles in meinem Haus ist simpel eingerichtet mit matten Farben und nicht viel Schnickschnack. In der Mitte des Raumes steht ein grosses King Size Bett.

Neben mir ertönt ein Räuspern. Ein Blick nach rechts reicht und mein Atem steht still. Ich weiss nicht, was beeindruckendes dieser Mann an sich hat, dass ich meinen Blick nicht von ihm lösen kann.

Mein Kopf muss ich ein ganzes Stück heben, um in seine Augen zu blicken. Mein Mund steht offen ,aber es kommt kein einziger Ton raus. Mein Kopf schwirrt. Vielleicht habe ich heute auch einfach zu wenig gegessen. Die dämliche Diät habe ich schon vergessen, als ich die Spaghetti auf das Kassenband gelegt habe.

"Ich hole sofort Klamotten. Das Bad ist direkt nebenan. Ihr findet alles in den Schränken. Rasierzeug, Zahnbürste, Schere und so weiter." Während dem ich zu ihm spreche, traue ich mich nicht, ihn anzusehen. "Nehmt euch Zeit so lange ihr brauchst. Ich warte dann in der Küche." Ich werfe ihm einen letzten Blick zu, dann zu Emily. Immer noch schlafend liegt sie in Logans armen. Es scheint, als ob sie nichts aus der Ruhe bringen könnte.

Unumgehbare LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt