K A P I T E L 3

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E l i z a b e t h

Wir sitzen alle gespannt am Esstisch und Ed ganz vorne. Neugierig betrachten wir ihn. Nicht sicher, ob wir sauer sein sollen, dass er erst jetzt da ist oder einfach nur glücklich, dass er es überhaupt ist. Bis jetzt hat er nicht viel erzählt. Er ist allgemein relativ still und hat mich nicht einmal darauf angesprochen, was in der Schule passiert ist.
Alex hat einen Auflauf zubereitet, den wir gerade essen, jedoch bekomme ich kaum einen Löffel hinunter. Das Essen schmeckt einfach nicht mehr so gut, seitdem unsere Mom nicht mehr kocht. Es liegt keineswegs an Alex, es ist einfach nur das Wissen, dass sie nie wieder etwas zubereiten wird. Ich weiß nicht, ob die anderen auch so empfinden, denn über Mom und Dad reden wir nicht. Nie.
Noch immer will ich wissen, was ihm diese schlimme Narbe zugefügt hat. Und, wenn er selbst im Gesicht eine hat, sind dann noch mehr auf seinem Körper? Ist es für ihn so schrecklich gewesen, wie ich es glaube? Vielleicht ist es naiv zu denken, ihm sei dort nichts Schlimmes passiert. Krieg, egal wo und wann ist schrecklich. Ob er Menschen sterben sehen hat? Hat ihn das verändert? Ist er vielleicht deshalb so still, hart, kalt und wirkt so unnahbar? Vielleicht können es die anderen beiden nicht sehen, denn es ist ein offenes Geheimnis, dass Ed und ich schon immer eine engere und tiefgründigere Verbindung gehabt haben als die anderen beiden. Manchmal denke ich, dass Clair deswegen eifersüchtig gewesen ist, jedoch, wenn sich meine Vermutung bewahrheitet, hat sie das immer gut versteckt.
Jedenfalls wirken seine Augen verloren. Er selber wirkt verloren. Als würde er halt suchen und blindlings nach etwas greifen, das er einfach nicht zu fassen kriegt. Dieser Gedanke stimmt mich traurig, ist er doch immer derjenige gewesen, der uns Halt gegeben hat. Alex und er haben einen riesigen Streit gehabt, kurz bevor er in die Armee gegangen ist. Worüber, weiß ich bis heute nicht. Früher hat Alex immer zu ihm aufgesehen; das Ziel vor Augen wie Ed zu werden, was er vermutlich noch immer verfolgt, allerdings schwingt seit ihrem Streit ein kühler Unterton in Alex Stimme mit, sobald er von ihm redet, was abgesehen davon relativ selten vorkommt. Unsere Eltern sind stolz auf ihn gewesen, dass er den Entschluss gefasst hat, seinem Land zu dienen. Natürlich, welches Elternherz würde nicht vor Stolz platzen? Trotzdem verstehe ich bis heute nicht, was seine Beweggründe waren. Ist es Leichtsinn gewesen? Neugierde? Heldenmut? Oder doch, was ich eher vermute, eine Flucht? Aber vor was? Etwa vor uns? Oder etwas, von dem ich nichts weiß? Oft habe ich mir diese Fragen gestellt, nächtelang darüber philosophiert und doch, bin ich nie zu einem Ergebnis gekommen. Trotz, dass wir immer füreinander da gewesen sind und alles übereinander gewusst haben, habe ich zumindest gedacht, aber eigentlich ist er das größte Rätsel für mich geblieben.
„Warum bist du hier?", kommt es plötzlich von Alex und ich weiß nicht, ob er es mit Absicht abwertend ausdrückt oder er es nicht einmal merkt. „Ich wurde für unbestimmte Zeit vom Dienst freigestellt", erklärt er uns. Freigestellt? „Warum?", stellt Clair die Frage, die mir auf der Zunge brennt. „Unsere Einheit wurde... aufgelöst. Zudem kam der Todesfall in der Familie, woraufhin sie mich freigestellt haben", seine Stimme könnte nicht gleichgültiger sein. Freut er sich denn nicht? „Also bleibst du?", platzt die Frage strahlend aus mir raus. Alle sehen zu mir. Alex schaut unschlüssig, Clair genervt und Ed amüsiert. „Ja, Kleines. Ich bleibe." Zufrieden widme ich mich dem Essen, was jetzt schon etwas appetitlicher auf mich wirkt. Er bleibt. Es erfüllt mich mit Genugtuung, zu wissen, dass er hier ist, ein Zimmer weiter neben meinem. Wissend, dass jemand hier ist und uns beschützen kann. Natürlich weiß ich, dass Alex das auch könnte, doch er ist selbst noch ein Kind, während Ed Ende zwanzig ist. Außerdem trägt er eine Waffe, auch, wenn ich diese Dinger hasse und nicht verstehen kann, wie sowas legal ist. Doch Ed hat eine Ausbildung gehabt, soweit ich mich erinnere und mir ist klar, dass er mit diesen tödlichen Dingern umzugehen weiß. Seit unsere Eltern nicht mehr hier sind, habe ich Angst, fühle mich unbeschützt und verwundbar. Vielleicht bin ich das auch? Verwundbar...

~

Nach dem Essen räumen wir gemeinsam den Tisch ab und wollen uns wie jeden Abend ins Wohnzimmer begeben, doch Ed bleibt in der Küche stehen. „Kommst du?", frage ich ihn zaghaft und berühre ihn sanft an der Hand. Kaum merklich zuckt er zusammen, ehe er mir in die hellblauen Augen sieht. „Ich weiß nicht...", sagt er unsicher und kratzt sich im Nacken. „Nur kurz, vielleicht tut es dir ganz gut", sage ich lächelnd und ziehe ihn bereits in Richtung Wohnzimmer. Alex hat es sich auf seinem Sessel gemütlich gemacht und sucht unsere Serie raus, die wir immer zusammen gucken. Clair sitzt in der Ecke der großen Couch und schreibt etwas auf ihrem Handy. Verunsichert setzt sich Ed in die gegenüberliegende Ecke. Belustigt mustere ich ihn und lasse mich neben ihn plumpsen. Er wirkt anspannt und verkrampft. Nachdem die Folge angefangen hat, bette ich meinen Kopf auf seine Schulter und sofort spüre ich wieder, wie heftig er zusammenzuckt. Doch ich ignoriere es einfach. Vielleicht ist es albern zu denken, dass wieder alles so wird wie früher, doch mein naives, inneres Ich wünscht es sich viel zu sehr, als diese Hoffnung einfach aufzugeben. Entspannt lausche ich den Stimmen, die aus dem Fernseher dringen, bis ich plötzlich mit dem Kopf auf Ed's Beinen lande. Müde gähne ich auf und rolle mich zusammen. Nur schwach bemerke ich, wie eine Hand durch meine Haare gleitet und mir ein paar Strähnen aus meinem Gesicht hinters Ohr klemmt, ehe mir die Augen zufallen.

Schweißgebadet schrecke ich auf und atme hektisch ein und aus. Angestrengt wische ich mir über meine Stirn und streiche meine Haare nach hinten. Verwirrt stelle ich fest, dass ich noch immer meine Klamotten an habe, als mir klar wird, dass mich jemand ins Bett gebracht haben muss. Müde gehe ich zu meinem Kleiderschrank, fische einen langen gemütlichen Schlafanzug raus und ziehe ihn an. Plötzlich dringt ein lautes Keuchen zu mir und eine Stimme, die definitiv „Nein" flüstert. Neugierig verlasse ich mein Zimmer und sehe zur Tür, die zu Ed's Zimmer gehört. In den letzten Jahren bin ich oft in dem Zimmer gewesen und habe mich einfach in sein Bett gelegt, um seinen Duft tief in meine Lungen saugen zu können. Habe ich ihn doch so sehr vermisst.
„Nein! NEIN!", dringt es nun laut zu mir nach draußen, dass ich hoffe, es weckt nicht die anderen, dessen Zimmer genau gegenüber von unseren liegen. Langsam gehe ich zur Tür und öffne diese ganz leise. Es ist stockdunkel und doch höre ich immer wieder das fast schon schmerzhafte Keuchen, was definitiv von Ed stammt. Leise mache ich eine kleine Lampe im Zimmer an, die nur spärlich den Raum erhellt, doch mehr habe ich nicht gewollt. Ich gehe zaghaft auf ihn zu und sehe ihn stark schwitzend, mit einem verkrampften Gesichtsausdruck, auf dem Bett liegen. Sein Oberkörper ist unbedeckt und erschrocken halte ich mir die Hand vor den Mund. Oh mein Gott.
Viele tiefe und große Narben zieren seinen Körper. Brandnarben, Schusswunden und einige, die von Messern stammen müssen, jedenfalls sind es die, die ich identifizieren kann. „Oh Edward...", seufze ich. „Was haben sie dir nur angetan." Gequält zittert er und ruft immer wieder „Nein!". Sanft lege ich eine Hand auf seine Wange und versuche ihn aus seinem grauenvollen Alptraum zu wecken. Plötzlich reißt er die Augen auf, dann packt er mich, schmeißt mich auf's Bett, setzt sich auf mich, greift um meinen Hals und drückt mir eine eiskalte Pistole gegen die Stirn.

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