Kapitel 10

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Orion erfuhr mitten in der Nacht davon.

Schnell zog er sich um und hastete mit Jinx in den Raum, in dem man alle Aufzeichnungen der Überwachungskameras sehen konnte.

„Wie ist das passiert?", fragte er und knipste sich durch die unterschiedlichen Perspektiven.

„Wahrscheinlich hat sie den Schlüssel von Blakkarsson abgeluxst", mutmaßte Jinx. „Schließlich hatte er gestern Abend und heute Nacht Wache."

„Hmm. Um Wie viel Uhr genau ist es denn geschehen?"

„Um ein Uhr siebenundvierzig."

Orion spulte die Zeit von den Aufzeichnungen außerhalb der Villa Konungur zur besagten Zeit zurück. Dann setzte er sich die Kopfhörer auf und klickte auf Play.

Alles war dunkler und somit schwieriger zu erkennen. Orion sah die Silhouette von Thea, die schnell auf den Strand rannte und sich nach hinten umsah. Dann lief sie zügig weiter am Strand entlang, und als sie fast schon auf dem Bildschirm verschwand, wölbte sich aus dem Meer eine riesige Gestalt auf.

„Oh nein", murmelte Orion.

Der Tasfar ragte nun fast komplett aus dem Wasser und Thea blieb stehen und wich zurück. Er begann zu sprechen und Orion machte den Ton lauter, um besser hören zu können:

„Höre mir gut zu, Meereskind, die Zeit ich zu sprechen vermag verrinnt", begann der Tasfar und der Doktor hörte sogar von hier aus die Vibration der Stimme.

„Entflieh dem Herzen der Finsternis, die Dunkelheit ist ungewiss. Immens wichtig ist dein Überleben, denn dir wurde eine große Rolle vergeben: Hilf, die Ozeane sind in Not, der Tod sie schon alle bald bedroht. Doch zunächst schaue dich um, trotz des Feindes, der lauert herum, denn wo er ist, ist auch der Freund, den du -"

Der Rest ging unter dem Getrampel und den Rufen seiner Leute unter, die auf den Strand eilten und Thea packten. Der Tasfar verschwand wieder in den Fluten des Meeres, und nur Thea schien verstanden zu haben, was er als letztes gesagt hatte.

Orion kaute auf seiner Unterlippe herum, während er den Kopfhörer wieder abnahm.

„Wie ich dieses magische Vieh doch hasse", knirschte er. „Immer durchkreuzen sie die Pläne von jemandem!" Er dachte nach. Alea durfte auf keinen Fall davon erfahren, doch sicher schlief sie tief und fest in ihrem Zimmer. Und Thea... sie könnte bei den anderen Kindern vorbeigekommen sein! Vielleicht wussten sie jetzt voneinander. Doch nein, Quatsch. Ihr Aufenthaltsort in den Katakomben war um einiges von den andern entfernt und nicht auf dem Weg, der direkt nach draußen führt. Außerdem würde eine dicke Stahltür die Sicht versperren und vor ihren Räumen standen Wachen. Es war also ausgeschlossen, dass sie voneinander wussten, stellte Orion erleichtert fest. Doch dann fielen ihm wieder die Worte des Tasfaren ein... Er sprach eindeutig davon, dass Thea der Elvarion helfen würde. Und das beunruhigte ihn. Gerade jetzt, wo sie so nah beinander sind, war die Wahrscheinlichkeit, dass die Worte des Magischen stimmten, sehr hoch. Eigentlich bewahrheiteten sie sich fast immer. Das war ganz schlecht...

„Lass noch extra Schlösser an ihrer Tür anbringen", sagte Orion zu Jinx. „Sie ist ein Meermädchen und hat dazu noch die Fähigkeiten einer Walwanderin. Thea und Alea zusammen, kaum auszudenken, was die beiden anstellen könnten! Thea kann ja anscheinend ziemlich gut ungesehen bleiben – wie sonst wäre sie bei den verdoppelten Wachen draußen vorbeigekommen?" Bei diesen Worten erschrak er, weil wenn dieses Mädchen durchkam, dann schaffte der Nixenprinz Cassaras das im Schlaf. Und nur wegen ihm wurden die Wachen verdoppelt. Na das konnte ja heiter werden.

„Ich werd mir überlegen, wie ich die Gefahr, die von ihr Ausgeht, demolieren kann. Dann wäre sie nur noch..."

„... die Schwester der Elvarion der letzten Generation", schloss Jinx sarkastisch seinen Satz. Damit verschwand er. Und Orion stand auch auf und ging, während er im Kopf schon unzählige Pläne entwickelte und beiseite warf, um Thea unschädlich zu machen.

Am Morgen fiel ihm dann tatsächlich etwas ein.

„Was hast du dir dabei gedacht?", gebärdete Orion, als er im Kerkerraum von Thea war. „Und wie bist du überhaupt hier rausgekommen?" Sie hatte schon häufiger Fluchtversuche gestartet, doch noch nie war sie bis zum Strand gekommen.

Thea blickte ihn trotzig an. „Du und Dad – ihr wollt nicht, dass ich hier rauskomme! Warum tut ihr das? Keine normalen Väter machen solche Dinge! Ihr versteckt mich doch vor jemandem." Sie hob noch einmal die Hände, als wollte sie etwas hinzufügen, doch dann sanken sie wieder nach unten. Sie verschwieg ihm doch etwas...

„Thea", begann Orion, doch eigentlich wusste er gar nicht, was er sagen wollte. Deshalb wiederholte er einfach seine Frage zuvor: „Wie bist du hier rausgekommen?"

Als keine Antwort kam, lief er seufzend durch den kleinen Raum. Ein Stapel Bücher lagen in der Ecke, mehr gab es zur Beschäftigung nicht. Vielleicht sollte ich ihr wirklich ein paar mehr geben!, dachte Orion und schaute sich die Titel an.

„Pa", sagte Thea mit lauter Stimme und nahm ihm ein Buch aus der Hand. „Die gehören mir."

„Dir?", keifte er und zog ihr das eine aus der Hand. „Ich kann mich nicht erinnern, dir welche geschenkt zu haben. Außerdem -" Er stutzte. „Woher hast du das denn?"

Orion wusste noch ganz genau, das dieses Buch nicht durch seine Hand zu ihr gekommen ist. Es war eine Geschichte über Mythen – nichts besonderes, aber wie kam es zu ihr?

„Woher hast du das?", wiederholte er nun ärgerlich und hielt es ihr direkt vor die Nase. Thea erwiderte nichts, schaute sich nicht einmal die Vorderseite an.

„Hat es dir jemand gebracht? Jinx? Hagen? Blakkarsson? Oder hast du es gestohlen? Als du ausgebüxt bist?" Orion fand letztere Möglichkeit wahrscheinlicher, denn alle seine Männer – vor allem Jinx – wussten, dass sie das nicht tun durften.

„Du hast es gestohlen, oder? Aus meiner Bibliothek gestohlen. Antworte mir!"

Manchmal war es echt ein Nachteil, dass man Thea nicht anbrüllen konnte. Oder wenigstens anschreien.

„Mir war langweilig", gebärdete sie, das Kinn trotzig vorgeschoben, wie sie es so gut konnte. Aber das war nicht die Antwort auf seine Frage. Jedenfalls keine eindeutige und als Thea nichts mehr rausrückte, gab Orion es auf und verließ den Raum.

Er wollte, noch bevor Alea aufwachte, schriftlich Pläne entwerfen. Pläne zu seinem DNA-Wandler.


An diesem Tag hatte Orion wieder einiges mit Alea vor.

Er saß schon am Frühstückstisch, als Rix sie reinbrachte.

„Guten Morgen!", sagte er. „Gut geschlafen?" Alea nickte und lächelte. Allerdings wirkte sie dabei etwas verkrampft, fiel Orion auf. „Bravo", sagte er nichtsdestotrotz und Giovanni und Rix trugen das Frühstück auf. „Ich dachte, dass wir beide mal ins Zentrum Islands fahren könnten. Weißt du, hier gibt es viele tolle Geysire."

Alea beobachtete Orion dabei, wie er etwas vom Sprudelgetränk trank. „Klingt toll", sagte sie tonlos, nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte. Orion fixierte sie.

„Alles okay?" Sie bejahte zögerlich.

„Ich würde wirklich gerne zu einem Geysir gehen, aber momentan habe ich starke... Bauchschmerzen." Deshalb wirkte sie also so verkrampft. Orion hob die Arme.

„Das ist kein Problem. Wir können auch ein andermal dort hingehen, wenn du möchtest. Soll ich dich mal anschauen?"

„Mhm."

Orion stand auf und warf einen Blick auf sie. Er mochte es nicht sonderlich, seinen Roix-Innensichtblick anzuwenden. Aber das konnte er mit dem Ergebnis wieder übertrumpfen. Er konnte nichts erkennen, also musste es etwas sein, was nur kurz anhält. Das berichtete er ihr.

„Aber trotzdem kannst du dich heute erstmal ausruhen – ich hätte dann viel Zeit, um am Gegenmittel mit deinem Blut weiterzuarbeiten", sagte Orion, um sich ungestört dem DNA-Wandler widmen zu können.

„Ist gut." Alea strich sich Marmelade auf ihr Brot und blickte ihn nicht an. Irgendetwas war doch mit ihr... Orion runzelte die Stirn.

Und beschloss, dass das gar nichts zu bedeuten hatte.

Orions Spiel (Alea Aquarius Perspektivenwechsel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt