Vorspiel

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Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es. Aber sie stirbt.

Im Moment schläft sie jedoch nur.

Ich wende meinen Blick vom regenfeuchten Fenster ab und betrachte die erschöpfte, friedlich schlafende Hope inmitten der zerwühlten Hotelbettlaken. Die junge Frau träumt. Es ist ein guter Traum. Dafür habe ich gesorgt. Man nennt mich zwar einen Nachtmahr, aber Albträume bringe ich für gewöhnlich nur den Menschen, die mich wütend machen. Für alle anderen bin ich ein Inkubus. Ein Dämon, der Sterblichen im Schlaf beiwohnt und ihnen höchstens als erotische Fantasie in Erinnerung bleibt. Der schweizer Maler Füssli hat uns in seinem ikonischen Werk der Nachtmahr ein Denkmal gesetzt. Darin zeichnet er uns als hässliche, gnomenhafte Kreaturen, die ahnungslosen Menschen auflauern und ihnen im Schlaf Gewalt antun, ohne dass sie es bemerken. Vielleicht trifft das auf einige Inkubi auch zu. Doch alle Nachtmahre, die ich in der Vergangenheit kennengelernt habe, sind ausnahmslos attraktiv. Und sie überfallen ihre Opfer auch nicht in der Nacht, wenn sie schutz- und wehrlos sind, sondern begegnen ihnen am Tag, beim Einkaufen, auf dem Weg zur Arbeit oder beim Spaziergang mit dem Hund. Wir verführen die Menschen, während sie bei klarem Verstand sind. So macht es am meisten Spaß.

Ich setze mich auf die Bettkante und fasse nach dem Rotweinglas, das noch immer auf dem Nachttisch steht. Gedankenverloren setze ich es an die Lippen. Dämonen und Menschen mischen sich normalerweise nicht. Sie sind wie Öl und Wasser. So hat man es mir jedenfalls erklärt. Dämonen besitzen einen fleischlichen Körper, aber keine unsterbliche Seele. Deshalb können sie sich nicht mit Menschen fortpflanzen. Inkubi sind eine Ausnahme. Wir tragen so etwas wie einen metaphysischen Emulgator in uns. Deshalb sind wir dazu in der Lage, uns mit Menschen zu mischen und können sogar halb sterbliche, halb dämonische Nachkommen zeugen. Diese fleischliche Vereinigung von Mensch und Dämon hat allerdings auch Konsequenzen. Nicht nur für den beteiligten Menschen, sondern auch für uns Inkubi. Jedes Mal, wenn wir Wasser und Öl zu einer cremigen Mayonnaise verrühren, geben wir etwas Dämonisches von uns auf und erhalten dafür etwas Sterbliches.

Langsam lasse ich das Glas wieder sinken. Mein Blick wandert zu Hopes Gesicht. Ihre runden Wangen sind noch immer leicht gerötet. Die rabenschwarzen Haare kleben ihr feucht an der Stirn. Unsere Vereinigung war ausdauernd, intensiv und ein wenig wild. Vielleicht weil ich so lange nicht mehr unter Menschen gewesen bin. Oder weil Hopes Seele mit Gewalt nach einer Form von Erlösung gesucht hat.

Ich strecke die Hand nach ihr aus und streiche mit den Fingern über ihre rechte Wange. Ihr Psychor, das Gemisch aus Blut und Seele, das durch ihre Adern fließt, duftet noch Immer äußerst anziehend. Für menschliche Augen mag sie keine Schönheit sein, aber für mich ist sie hinreißend. Vielleicht weil sie mich an meine Schwester erinnert. Vielleicht weil ich bei unserer Vereinigung nicht nur ihren Körper, sondern ihre Seele berührt habe. Viele sterbliche Seelen entfalten erst dann ihre ganze Pracht, wenn sie sich nicht mehr hinter Stoffen und Schmuck, einem tiefgründigen Humor oder einem scharfen Verstand verbergen können. Außerdem sind wir Inkubi sehr geschickt darin, jede einzelne Facette einer Seele zum Vorschein zu bringen. Ganz egal, wie tief wir dafür in den menschlichen Körper oder Geist eindringen müssen.

Meine Finger wandern an Hopes Hals entlang bis zu ihrer Schulter. Dort fassen sie die Bettdecke und ziehen sie ein Stück höher. Hope räkelt sich genüsslich und murmelt etwas Unverständliches. Sie hat schon lange nicht mehr so gut geschlafen. Die Furcht hat sie nicht schlafen lassen. Jetzt sind ihre Sorgen verschwunden. Schon als ich sie kennenlernte, habe ich gesehen, dass sie eine Last auf der Seele trägt. Es war offensichtlich. Und jetzt weiß ich auch, was sie gequält hat. Ich weiß es nicht nur. Ich erinnere mich daran. So wie sie sich selbst daran erinnert. Es ist bedeutungslos. Eine flüchtige, menschliche Angelegenheit. Doch ich bin ein Inkubus. Ich habe mich mit Hope gemischt und sie zu einem Teil von mir gemacht. Das bedeutet, ich kann nicht anders als mit ihr zu fühlen. Gleichzeitig bin ich aber auch ein Dämon. Und Dämonen sind von Natur aus rachsüchtige Geschöpfe.

Ich beuge mich vor und gebe Hope einen Abschiedskuss auf die verschwitzte Stirn. Wir werden uns nicht wiedersehen. In ein paar Stunden wird der Effekt unserer Vereinigung verschwunden sein. Dann wird sie mich für einen Traum halten und meine Gefühle für sie werden verblassen. Aus diesem Grund muss ich mich beeilen. Es gibt etwas, das ich erledigen muss. Etwas Dämonisches. Aber vielleicht sollte ich mit meiner Erzählung ein paar Stunden früher beginnen.

Am besten beginne ich mit den Ereignissen, die sich am vergangenen Abend zugetragen haben, als ich gegen 20 Uhr mitten auf dem New Yorker Times Square erwachte - sehr zur Freude der Passanten splitterfasernackt.

NachtmahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt