Nackt

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Ich weiß weder, wo ich mich befinde, noch wo ich bis vor wenigen Sekunden gewesen bin. In meinem Kopf herrscht gähnende Leere. Um mich herum sind Lichter, aber ich kann sie nicht richtig wahrnehmen. Sie strahlen zu hell für meine empfindlichen Augen. Dinge sind in Bewegung. Ich spüre den Luftzug, wenn sie an mir vorbeirauschen. Gleichzeitig höre ich Geräusche. Stimmen, Musik, Motoren. Der Lärm dröhnt in meinen Ohren. Ich will zurück dahin, wo ich hergekommen bin. In die Stille. In die Dunkelheit. Doch ich kann nicht.

„Hey, Achtung!", ruft jemand. Ich erkenne die Sprache. Englisch.

Kurz darauf werde ich am Arm gepackt und mitgezerrt. Ich spüre feuchten Asphalt unter meinen Füßen. Ein feiner Nieselregen liegt in der Luft. Ich stolpere fast über eine Bodenerhebung, dann befinde ich mich auf gepflastertem Grund.

„Ist mit dir alles in Ordnung?"

Ich reibe mir die Augen und blinzele kräftig. Als ich die Lider anschließend weit aufreiße, kann ich eine alte Dame erkennen, die mich aus dem Kragen ihres Fellmantels heraus anstarrt, als wollte sie mich mit dem Skalpell sezieren.

„Du kannst doch nicht einfach auf die Straße laufen", sagt sie vorwurfsvoll. „Und dann auch noch splitternackt."

Ich sehe an mir herab und hebe überrascht die Brauen. Sie hat recht. Ich bin nackt wie Adam am Vortag des Sündenfalls.

Mein Blick wandert weiter. Hinter mir wälzen sich motorisierte Blechkisten durch gewaltige, grell erleuchtete Häuserschluchten. Die schiere Wucht der stählernen Bauten, die viele Meter hoch in den Himmel ragen und das abendliche Firmament aussperren, raubt mir für einen Moment den Atem. Ich drehe mich langsam im Kreis, während ich versuche, die vielen neuen Informationen zu verarbeiten. Weit über mir, an einer flimmernden Tafel, verkündet soeben ein Mann in einem schwarzen Anzug die Neuigkeiten des Tages. Bunte Spruchbänder wirbeln über die spiegelnden Hausfassaden. Nichtssagende Buchstabenkombinationen, wie TSX oder SAQ, H&M, google oder swatch stechen mir ins Auge. Dazwischen immer wieder Wörter, die ich zwar entziffern, aber nicht begreifen kann. Die Flut an Farben und Formen macht mich ganz benommen.

„Hallo?", fragt die alte Dame mit zusammengekniffenen Augen. „Du hast doch nicht etwa Drogen genommen, oder?"

„Nein", antworte ich zögernd. Ich kann nur vermuten, was mit mir passiert ist. Aber Drogen sind mit Sicherheit nicht im Spiel gewesen. Dämonen sind gegen die allermeisten Gifte und bewusstseinsverändernden Substanzen immun. Das habe ich schon früh - und durchaus mit Bedauern - feststellen dürfen.

Mein Blick streift einige Passanten, die mir vielsagend zulächeln. Als Inkubus übe ich auf die meisten Menschen eine fast schon unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Meine Nacktheit macht das natürlich nicht besser. Auch wenn ich selbst kein Schamgefühl besitze, ist es wohl besser für den Rest der Menschheit, wenn ich mich möglichst schnell sittsam verhülle.

Die alte Dame scheint ganz meiner Meinung zu sein. Anscheinend wirkt mein Charme bei ihr nicht. „Dann sieh zu, dass du dir was anziehst", verlangt sie und hebt drohend den Zeigefinger. „Ihr jungen Menschen denkt wohl, ihr könnt euch alles erlauben. Aber das geht nun wirklich zu weit."

Ich nicke und übe mich an einem verlegenen Lächeln.

Dabei entdecke ich eine Gruppe Menschen, die dicke Daunenjacken und schwere Rucksäcke tragen. In den Händen halten sie kleine Metallkästen, auf denen sie mit den Fingern herumtippen. Ich mache ein paar vorsichtige Schritte in ihre Richtung. Meine Beine haben sich noch nicht wieder an die Last meines Körpers gewöhnt. Doch ich quäle mich vorwärts, bis meine Muskeln den Ungehorsam einstellen. Als die Menschen auf mich aufmerksam werden, lassen sie die Metallkästen sinken. Ihre Blicke wandern über meinen Körper, von Kopf bis Fuß und sparen auch meine Genitalien nicht aus. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Als Inkubus ist man von Natur aus nicht schlecht bestückt. Nicht dass das eine Rolle spielen würde.

„Entschuldigung", sage ich und schenke den Menschen ein strahlendes Lächeln. Genau wie meine Gelenke ist auch mein Charme ein wenig eingerostet, aber ich merke, dass er trotzdem seine Wirkung tut.

Die Menschen lächeln zurück und bekommen diesen abwesenden, leicht verträumten Gesichtsausdruck, den ich sehr oft zu sehen bekomme. Sie wissen nicht, was ich bin. Aber sie spüren, dass ich ihnen etwas geben kann, das sie nirgendwo sonst bekommen können. Während ich das denke, wird mir bewusst, dass ich mich tatsächlich bald wieder ernähren muss. Ich benötige ein Opfer. Jemand Williges, mit dem ich mich vereinen kann, um meinen Hunger zu stillen. Und ich habe einen gewaltigen Appetit.

„Wie ihr seht, habe ich ein kleines, kleidungsbedingtes Defizit", erkläre ich meinem Publikum. Ein junger Mann zwinkert mir zu. Ich lächle zurück. Menschen können sehr niedlich sein, wenn sie sich in meiner Gegenwart befinden. Sie sind ein bisschen wie Betrunkene und wissen nicht, was sie tun. Allerdings wähle ich meine Opfer mit großer Sorgfalt aus. Und selbst der größte Hunger wird mich nicht dazu bringen können, mit dieser eisernen Regel zu brechen. „Ich würde mich also sehr darüber freuen, wenn ihr mir aushelfen könntet."

Die Menschen überbieten sich fast in ihrer Hilfsbereitschaft. Im Nu habe ich Hose, Hemd und Jacke zusammen.

Nachdem ich mich angekleidet habe, sehe ich mich noch einmal aufmerksam um. Dank der Spruchbänder an den Hausfassaden und dem förmlich gekleideten Nachrichtenverkünder begreife ich allmählich, wo ich mich befinde: New York City im Jahr 2020. Als ich zuletzt hier gewesen bin, hat man den Times Square noch New Acre Square genannt. Ich erinnere mich an das Feuerwerk, das die New York Times zu ihrem feierlichen Einzug abgehalten hat. Damals haben sich Pferdegespanne und Straßenbahnen die breiten Boulevards geteilt. Ich habe im Astor-Hotel gewohnt, mit seinem grünen Kupfer-Mansardendach, seinem Rokoko-Ballsaal und den prächtigen Dachgärten. Auch damals hat es schon Lichter und Werbetafeln gegeben, doch nicht so mächtig, himmelsstürmend und erdrückend. Die Stadt scheint im vergangenen Jahrhundert nicht größer, sondern kleiner geworden zu sein.

Hundert Jahre, echot es in meinem Kopf. Ich bin fast hundert Jahre fort gewesen. Was ist in dieser Zeit mit mir passiert? Mein Geist kann oder will es mir nicht sagen. Jedenfalls noch nicht. Also beschließe ich, erst einmal abzuwarten. Außerdem gibt es andere Dinge, die Vorrang haben. Ich muss mir ein Opfer suchen und mich ernähren. Doch wen soll ich auswählen? Die Straßen sind voller Menschen. Auf den ersten Blick gleichen sie sich wie eine Ameise der anderen. Trotzdem bin ich wählerisch. Ich will mich nicht einfach mit irgendwem mischen, sondern mit einem besonderen Menschen.

NachtmahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt