Dämon

78 16 11
                                    

Wisst ihr noch? Ich sagte, wir Inkubi wären keine normalen Dämonen, weil uns die Vereinigung mit den Sterblichen menschlich machen würde. Nicht dass Gefühle etwas vorrangig Menschliches wären. Auch Dämonen haben Gefühle. Sie können leiden, lieben und hassen. Sehr intensiv sogar. Eigentlich ist das einzig wirklich Menschliche, das wir Inkubi von den Sterblichen übernehmen, das Mitgefühl. Und ganz besonders unsere Fähigkeit, mit den Menschen zu fühlen. Möglich, dass uns das in den Augen von normalen Dämonen, die für Menschen wenig mehr übrig haben als für ein Kaugummi unter ihrem Schuh, zu Schwächlingen macht. Doch wir Inkubi haben keine Wahl. Die Gefühle und Gedanken der Menschen durchdringen uns. Sie nisten sich in uns ein und werden zu einem Teil von uns. Wir fühlen, was sie fühlen.

Und im Moment fühle ich genau zwei Dinge: endlose Scham und haltlosen Zorn. Ich schäme mich dafür, dass ich niemandem von dem Vorfall mit Kim erzählt habe. Ich bin wütend auf Liam, der Kim diese schreckliche Sache angetan hat. Und ich bin wütend auf mich selbst, weil ich zugelassen habe, dass ein Arschloch wie er über mein Leben und meine Gefühle bestimmt. Das ist nicht der Mensch, der ich bin, und erst recht nicht der Mensch, der ich sein will.

Doch ich habe eine Lösung gefunden. Es ist wahrscheinlich keine besonders gute Lösung. Schließlich bin ein Inkubus und wir Dämonen lösen unsere Probleme auf unsere eigene Art und Weise. Aber es ist ein Lösung. Und sie wird mir Genugtuung verschaffen. Wie viel Genugtuung wird mir erst wirklich bewusst, als ich am Fußende von Liams Wohnheimbett stehe und auf ihn herabsehe.

Der junge Mann schläft, weit ausgebreitet, alle Glieder von sich gestreckt. Seine dunklen Haare sind ein wenig zerzaust. Seine muskulöse Brust ist vollkommen glatt rasiert. Es wundert mich fast, dass er hier ganz alleine schläft. Mein Blick wandert über die Einrichtung und fällt dabei auf die Hanteln neben dem Bett, auf das Poster eines halbnackten Playboy-Häschens an der Wand, auf die Schale mit Kondomen und auf die Football-Trophäen im Regal. Liam ist ein wandelndes, amerikanisches Klischee. Ihn zu sehen, widert mich an. Ich weiß, die Gefühle stammen von Hope, aber ich lasse sie zu und gebe mich ihnen vollständig hin.

Langsam umrunde ich das Bett. Am Fenster bleibe ich kurz stehen und sehe auf die Straße vor dem Wohnheim hinunter. Der Himmel ist noch immer dunkel, aber am Horizont sind bereits die ersten Ausläufer des neuen Tages zu erkennen. Ferner Verkehrslärm deutet darauf hin, dass die Metropole um uns herum langsam zum Leben erwacht. Denn auch die Stadt, die niemals schläft, muss wenigstens ab und zu mal die Augen ausruhen.

Ich wende mich wieder von der Aussicht ab und setze mich auf die Bettkante. Auf meinem Weg zum Wohnheim habe ich mit einem frühen Berufspendler die Kleidung getauscht. Jetzt trage ich einen schwarzen Anzug, der ganz gut zu mir passt. Das ist jedenfalls meine Meinung.

Liam räkelt sich. Seine Augenlider flattern, aber er wacht noch nicht auf.

„Liam ...", flüstere ich und beuge mich über ihn. „Wir müssen über die Sache mit Kim sprechen."

Im nächsten Moment reißt der junge Mann die Augen auf. „Was zur Hölle ...?", entfährt es ihm. Dann erkennt er, dass ein Fremder an seinem Bett sitzt und rappelt sich auf. „Fuck! Wer bist du? Was soll der Scheiß? Mach gefälligst, dass du verschwindest."

„Der Anfang war gar nicht schlecht", erwidere ich gelassen, zücke eine Zigarette und stecke sie mir zwischen die Lippen.

Liam mustert mich mit ungläubigem Erstaunen.

„Aber der Rest ..." Ich verziehe das Gesicht und taste in meiner Jackett-Tasche nach Hopes Feuerzeug. Sie hat bestimmt nichts dagegen, dass ich es als Erinnerung behalten habe. Im Deckel steht die Gravur She who kneels before God can stand before anyone. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Hope auch ohne Gott gut klarkommen wird, wenn sich ein Dämon um den einzigen Mann kümmert, dem sie bislang nicht die Stirn bieten konnte. „Weißt du, ich lasse mich nicht gern beleidigen."

NachtmahrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt