Ich finde Hope inmitten der königlich weichen Laken. Ihr Körper fühlt sich warm und einladend an. Sie ist nicht mehr nervös. Weshalb auch? Ich habe sie auserwählt. Von allen Menschen in ganz New York. Es gibt also keinen Grund, nervös zu sein. Mal ganz davon abgesehen, dass ich im Lauf meiner bisherigen Existenz schon so ziemlich alles gesehen habe. Kein menschlicher Körper, keine verschrobene Eigenart könnte mich noch überraschen.
Hope scheint das zu spüren, denn sie wirkt nicht beschämt, als ich ihr aus ihrer Unterwäsche helfe. Ganz im Gegenteil. Die Initiative übernehmend, zieht sie mich auf sich und erforscht meinen Körper mit ihren Händen. Fast wirkt es, als wäre sie überrascht, keine Teufelshörner, Klauen, Dornen oder Widerhaken zu ertasten. Ich lasse sie gewähren und weide mich am Duft ihres Psychors, der durch die Erregung noch verstärkt wird.
Im Zimmer ist es angenehm düster. Die schweren Vorhänge sind halb zugezogen und lassen nur wenig Mondlicht ein. Das breite Doppelbett hat einen kleinen Betthimmel aus Brokat. Die barocke Einrichtung erinnert mich an mein Zuhause in Paris, aber auch an unsere Villa in Wien, ganz in der Nähe des Praters, wo 1873 die Weltausstellung stattfand. Ich erinnere mich noch gut an diese Tage, kurz bevor alles in Flammen aufging.
„Du bist so hübsch, Nat", murmelt Hope und streicht mir mit den Fingern durch die kupferfarbenen Haare, die mir in weichen Wellen bis über die Ohren fallen. Ihre Augen glitzern, als würden sich Diamanten darin spiegeln.
„Das muss ich sein", erwidere ich und küsse ihren Hals bis sie ein leises Stöhnen von sich gibt.
Sanft schieb sie mich von sich. Ein spitzbübisches Lächeln liegt auf ihren Lippen. „Eigentlich finde ich das hier ja gar nicht so schlecht."
„Freut mich, zu hören."
Hope kichert. „Nein, ich meine: In diesen ganzen Büchern über Vampire und Werwölfe geht es ja am Ende auch immer nur um Sex, oder?"
„Ich fürchte, das ist so gar nicht mein Fachgebiet", gebe ich zurück, stütze mich mit dem Arm neben ihr ab und streiche ihr zärtlich die Haare aus dem Puppengesicht. Ihre Wangen und ihr Dekolleté sind leicht gerötet. Ihre Lippen glänzen.
„Das hier ist wenigstens ehrlich", fährt sie fort.
Was das angeht, kann ich ihr nur zustimmen. Ehrlicher Beischlaf. Könnte mein Motto sein.
Ich lehne mich über sie. Wir küssen uns leidenschaftlich. Ich kann ihre erhitzte Haut an meinem Körper fühlen. Die weichen Kurven ihrer Brüste, die Senke ihrer Taille, ihre Schenkel und die verlockende Wärme dazwischen. Sie krallt die Hände in meine Schultern und zieht mich fest an sich. Unser Kuss wird intensiver. Ich vergrabe meine Hände in ihren Haaren und drücke sie mit sanfter Gewalt in die viel zu üppigen Kissen. Fast fühlt es sich so an, als würden wir beide diese Verschmelzung erzwingen wollen. Als könnten wir es nicht mehr abwarten, uns zu vereinen. Dabei haben wir noch eine ganze Nacht vor uns. Eine Nacht, die nur uns beiden gehört.
Hopes leise Äußerungen leiten mich zu den Regionen ihres Körpers, an denen sie die meiste Lust empfindet. Auch nach 100 Jahren Hunger habe ich noch genug Beherrschung, um nicht einfach über sie herzufallen, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie sich nicht beschwert hätte. Der Geschlechtsakt selbst ist für ein Wesen wie mich natürlich mit einer gewissen Routine verbunden, aber ich genieße es, dass sich in diesem Moment alles vollkommen neu anfühlt.
Und während sich Hopes Körper unter meinem Zuspruch langsam für mich öffnet, entfaltet sich auch ihr Geist. Ich kann es sehen, wenn ich ihr tief in die dunklen Augen blicke, während sie sich unter meinen Berührungen windet, ihre Hüften in meinem Rhythmus bewegt und leise meinen Namen flüstert. Ich sehe durch die zarten Zwiebelschichten ihres Verstandes bis zu ihrer Seele, die sich in ihrer ganzen schillernden Pracht vor mir auftut. Licht und Finsternis schwimmen darin wie irisierende Ölteppiche auf einem schier endlosen Ozean. Pechschwarze Schleier und gleißende Schemen, dicht unter der Wasseroberfläche. Sie bilden wunderschöne, abstrakte Muster aus Helligkeit und Dunkelheit. Das Farbenspiel zieht sich durch ihren Psychor bis in jede einzelne ihrer Körperzellen. Licht und Finsternis, in einem ewigen Wechselspiel. Nichts könnte menschlicher sein.
Ich tauche in ihre Menschlichkeit ein, in ihr Fleisch, ihr Blut und auch in ihren Geist. So tief, dass es für eine Weile keine Grenze mehr zwischen uns gibt. Wir werden buchstäblich eins. Und ich sehe die Welt durch ihre Augen. Sehe die Wahrheit. Dinge, die sie zu verbergen sucht. Uralte Erinnerungen an Peinlichkeiten, die sie niemandem jemals gestanden hätte. Ich sehe ihre Schwächen und ihre Stärken. Ihr Mitgefühl, ihren Ehrgeiz und ihren Großmut. Ihre Selbstzweifel, ihr Versagen und ihren Stolz. Ich sehe, wer Hope Isobel Johnson wirklich ist. Ungeschönt. Ungefiltert. Die reine, nackte Wahrheit. Und ich sehe auch, was an Silvester zwischen ihr und Liam geschehen ist.

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Nachtmahr
PovídkyIgnatius ist ein Inkubus. Als er nach langer Abwesenheit im New York des Jahres 2020 wieder auftaucht, muss er sich in einer neuen Zeit zurechtfinden - und ein passendes Opfer suchen. Triggerwarnungen: (sexuelle) Gewalt, psychische Probleme, sexuell...