Nur eine halbe Stunde später hätte ich mich für diese vollmundige Ankündigung in den Hintern beißen können. Natürlich hat Hope in meiner Gegenwart keinerlei Grund, sich wegen anderer Menschen zu sorgen, aber Dämonen und ihre sterblichen Diener sind eine ganz andere Geschichte. Als mir die Verwirbelungen im Aether auffallen, ist es schon fast zu spät. Ich kann gerade noch ihre Hand packen und sie um eine Hausecke in eine abzweigende Straße zerren.
„Was ist denn?", keucht Hope, während sie auf ihren hohen Schuhen hinter mir her stolpert. Der feuchte Asphalt und die gläsernen Fassaden der umstehenden Gebäude reflektieren den Schein der Straßenbeleuchtung. Es ist spät geworden, weshalb nur noch wenige Passanten unterwegs sind. Auch der Verkehr ist in diesem Teil von Manhattan deutlich zurückgegangen.
„Komm mit. Vertrau mir", antworte ich und haste die Straße hinunter. Gerade so schnell, dass es nicht nach einer Flucht aussieht. Dämonen mögen es nicht, wenn man vor ihnen davonläuft. Das weckt ihren Jagdinstinkt.
Ich weiß nicht, wie sich die dämonische Gesellschaft in den letzten 100 Jahren verändert hat. Vermutlich hat sich nicht viel getan, genau wie in den Jahrhunderten zuvor. Normale Dämonen mögen es, wenn alles bleibt, wie es ist. Veränderungen sind ihnen ein Graus. Deswegen kann ich wohl annehmen, dass es noch immer Brauch ist, Inkubi wie Dreck zu behandeln. Natürlich muss ich mir das nicht gefallen lassen. Nicht nach allem, was ich erlebt und getan habe. Ich bin mehr als nur ein Inkubus, das weiß ich genau. Aber wenn ich mich auf einen Kampf mit den ortsansässigen Dämonenfamilien einlasse, den Winklers oder den Montagues, werden zwangsläufig Menschen ins Kreuzfeuer geraten. Es hat mal eine Zeit gegeben, da wäre mir das egal gewesen, doch heute ist es das nicht mehr.
„Was hast du gesehen?", haucht Hope.
„Den Aether", antworte ich. „Das ist ein Kräfte-Geflecht zwischen Licht und Finsternis. Darin hat jeder Dämon eine Signatur. Das bedeutet, er sorgt für einzigartige Wirbel und Strömungen."
„Wie in einem Magnetfeld?", fragt Hope.
„So ungefähr", erwidere ich, auch wenn ich keine Ahnung von Magnetfeldern habe. „Jedenfalls ist ein Dämon auf dem Weg hierher."
„Und warum willst du nicht, dass wir von einem Dämon gesehen werden? Du hast mir doch gerade erst erklärt, dass du selbst ein Dämon bist."
„Ja, aber ich bin nicht wie andere Dämonen", gebe ich zurück. „Jedenfalls nicht nur."
Ich ziehe sie in einen Hauseingang. Mein Herz pocht und drückt dabei den Nychor durch meine Adern bis in die hinterste meiner Zellen. „Dämonen sind grausam", erkläre ich mit gesenkter Stimme. „Nicht weil sie es sein müssten, sondern weil es ihnen Spaß macht. Wenn sie einen Inkubus und sein Opfer sehen, werden sie nicht zögern, den Menschen in Stücke zu reißen. Einfach nur, um den Inkubus zu demütigen."
Früher ist das oft vorgekommen. Meine eigenen Geschwister haben sich regelmäßig in mein Jagdregime eingemischt und meine Beute getötet.
Hope drängt sich an mich. „Du würdest mich doch beschützen, oder?"
„Ich würde es versuchen", antworte ich, wohlwissend, dass ich seit dem Jahr 1881 keinem Dämon mehr erlaubt habe, meine Beute anzurühren. Seit ich die wahre Macht meiner Feueraszendenz entdeckt habe, muss ich mir nichts mehr gefallen lassen. Trotzdem wäre es mir lieber, nicht kämpfen zu müssen. Nicht bevor ich meinen Hunger gestillt und mehr über diese Welt gelernt habe.
Vorsichtig spähe ich aus dem Hauseingang. Etwa zwanzig Meter entfernt sehe ich den Dämon. Er sieht aus wie ein Mensch, aber der Aether umwirbelt ihn auf eine Weise, die keine andere Schlussfolgerung zulässt. Der Dämon wird von zwei Halbdämonen und einem Hexenmeister begleitet, der zugleich sein menschlicher Sklave ist. Auch aus der Ferne kann ich das Brandmal sehen, das auf seiner Stirn prangt. Die Halbdämonen sind grobschlächtige Gesellen, die an eine Kreuzung aus Mensch und Bär erinnern. Ihr Anblick ruft mir wieder in Erinnerung, wie unnatürlich die Mischung von Mensch und Dämon ist. Früher wurde ich dazu gezwungen, Menschen beizuliegen, um Halbdämonen zu zeugen. Viele dieser Wesen töten bei der Geburt ihre sterblichen Mütter und wachsen zu rohen, irgendwie unfertigen und zutiefst bestialischen Kreaturen heran. Aus diesem Grund werden sie von reinblütigen Dämonen gern als Handlanger eingesetzt. Wenn ich nur daran denke, dass einige dieser Monster mein Blut in sich tragen, wird mir ganz anders.
Der Dämon und seine Begleiter sind schon fast an uns vorbeigezogen, da bleibt einer der Halbdämonen plötzlich stehen. Ich kann sehen, wie er schnuppert.
„Hope", flüstere ich.
Sie scheint zu ahnen, was ich ihr sagen will, denn sie schlüpft bereits aus ihren Schuhen. „Ich seh vielleicht nicht so aus, aber ich kann schnell rennen", versichert sie mir.
Ich unterdrücke den Impuls, sie zu küssen, und bitte sie stattdessen um ihr Feuerzeug.
„Nicht kaputt machen", warnt sie mich.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass der Dämon ebenfalls stehengeblieben ist. Mit einem flüchtigen Blick überprüft er den Aether, um sich zu vergewissern, dass er es nicht mit einem Feind zu tun hat, der seine Aufmerksamkeit erfordert. Dann setzen er, der Hexer und der andere Halbdämon ihren Weg fort. Der Halbdämon, der uns entdeckt hat, bleibt zurück und kommt langsam näher. Dabei bewegt er sich seltsam geduckt, halb schreitend, halb schleichend. Schon aus der Entfernung kann ich seinen Psychor riechen. Er stinkt nach verwesendem Fleisch.
„Los jetzt", dränge ich Hope. „Und keine Sorge, ich werde dich finden."
Das scheint Hope zu beruhigen. Während ich auf den Bürgersteig hinaustrete und dem Halbdämon den Weg verstelle, rennt sie in die andere Richtung davon. Der Halbdämon stößt ein animalisches Knurren aus und nimmt die Verfolgung auf. Sein Körper ist stark behaart und sein Gesicht dunkelrot angelaufen. Vermutlich hat er erst vor Kurzem von einem Menschen getrunken. Ich kann nicht verhindern, dass mich bei diesem Anblick der Zorn packt. Nicht nur wegen des bedauernswerten Opfers, sondern auch weil ich mich immer noch nicht ernährt habe. Nach 100 Jahren kehre ich in diese Welt zurück und man gönnt mir nicht einmal eine einzige anständige Mahlzeit. Ist das fair? Sicher nicht.
Ich betätige das Feuerzeug und nutze meine Kräfte, um den angreifenden Halbdämon in eine Stichflamme zu hüllen. Mit unsichtbaren Finsternis-Fingern fache ich die Flammen weiter an, sodass sie die Kreatur in einem Feuersturm verschlingen. Der Anblick der halb menschlichen, halb dämonischen Fackel löst bei den Passanten Entsetzen aus. Sie fliehen kreischend von den Straßen. Autos hupen und bremsen ruckartig, als die Kreatur im Todeskampf auf die Straße stolpert. Ich warte noch, bis ich mir sicher bin, dass sie nicht überleben wird. Dann verlasse ich so schnell ich kann den Ort des Geschehens. Aus Erfahrung weiß ich, dass Menschen viele Fragen stellen, wenn jemand in Flammen aufgeht. Außerdem möchte ich nicht dabei sein, wenn der Dämon seinen Fehler bemerkt. Niemand muss wissen, dass Ignatius Angatell-Rocas nach 100 Jahren Abwesenheit wieder in der Stadt ist.

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Nachtmahr
Historia CortaIgnatius ist ein Inkubus. Als er nach langer Abwesenheit im New York des Jahres 2020 wieder auftaucht, muss er sich in einer neuen Zeit zurechtfinden - und ein passendes Opfer suchen. Triggerwarnungen: (sexuelle) Gewalt, psychische Probleme, sexuell...