„Oh, mein Gott, da bist du ja!", keucht Hope und rennt die Böschung hinauf. Dabei stolpert sie und muss sich mit den Händen am feuchten Erdboden abfangen.
Wir sind von Eichen, Birken und Hartriegel-Sträuchern umgeben. Am unteren Ende der Böschung liegt ein spiegelglatter See, der das schwache Mondlicht reflektiert, das durch die Wolkenschleier dringt. Hinter den Bäumen ragen die hell erleuchteten Hochhäuser Manhattans hervor. Sie scheinen der Parkanlage einen Rahmen zu geben. Die Szene kommt mir unwirklich vor. Wie ein Traum, der nach dem Aufwachen zu einem vagen, seltsam angenehmen Gefühl verblasst.
„Geht es dir gut? Bist du verletzt?"
„Nein, nein", beschwichtige ich sie. „Mir fehlt nichts." Doch ich kann nicht leugnen, dass ich erschöpft bin. Nach 100 Jahren Dunkelheit und Hunger gehen mir die Manipulationen nicht mehr so leicht von der Hand wie früher.
Hope scheint zu spüren, dass ich ihr nicht die ganze Wahrheit sage, denn sie nimmt meine Hand und führt mich in den Schatten einer Ulme, sodass ich mich anlehnen kann. Die Bäume haben ihr Blätterkleid verloren. Ich sehe ihnen an, dass sie ungeduldig auf den Frühling warten.
„Du musst dich ernähren", stellt Hope fest.
„Stimmt. Es wird Zeit."
„Bevor wir weggerannt sind, sagtest du, dass du mich auserwählt hättest, dein Opfer zu sein."
„So ist es."
Ich mustere ihr Gesicht, weil ich ihre Reaktion sehen will. Natürlich rechne ich nicht ernsthaft mit einer Weigerung, aber ich möchte trotzdem wissen, was sie dabei fühlt.
Hopes Miene bleibt unbewegt. „Du willst also, dass ich mit dir schlafe?"
Ich nicke.
„Und das ist alles?"
„Du hast mein Wort. Weder dir noch deiner Seele wird irgendetwas zustoßen." Ich lehne den Hinterkopf gegen den knorrigen Baumstamm und lausche auf das Rascheln im Unterholz, das von einem kleinen Nagetier stammen muss. „Allerdings kann es durchaus zu einigen Nebenwirkungen kommen."
„Na, da bin ich ja mal gespannt", meint Hope. Als angehende Ärztin kennt sie sich mit Nebenwirkungen vermutlich bestens aus.
„Nichts Schwerwiegendes", beruhige ich sie. „Leichtes Fieber. Seltsame Träume. Verwirrtheit. Ein gesteigerter Geruchs- oder Geschmackssinn. Andere Menschen könnten plötzlich ein starkes sexuelles Interesse an dir zeigen. Aber das ist alles nur vorübergehend."
Hopes Mundwinkel zucken spöttisch. „Also entweder sagst du die Wahrheit oder das ist echt die verrückteste Anmache, die mir je untergekommen ist."
„Ich habe gerade vor aller Augen einen Halbdämon zu Asche verbrannt und du glaubst mir nicht?"
„Weiß noch nicht", antwortet Hope achselzuckend. „Aus irgendeinem Grund will ich dir glauben. Sehr sogar. Aber ich bin nicht wie meine Eltern, die alles glauben, was man ihnen sagt. Egal, wie bescheuert es ist. Und ja, ich finde, Engel und Teufel und was die katholische Kirche sonst noch so predigt, klingt ziemlich bescheuert. Ich glaube nur, was ich sehen kann."
Ihre Worte entlocken mir ein Lächeln. Die Menschheit hat sich wirklich verändert. Früher wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, die Existenz von Engeln und Teufeln prinzipiell anzufechten. Vielleicht hätte ich beleidigt sein sollen, aber stattdessen fühle ich einen anschwellenden Knoten aus Sympathie für dieses erfrischend trotzige Menschlein. Sie macht es mir nicht so leicht wie ich zunächst gedacht hätte.
„Gut. Dann werde ich dir jetzt etwas zeigen." Ich fasse in meine Hosentasche und zücke ihr Feuerzeug.
Hope mustert mich skeptisch. Vermutlich erwartet sie irgendeinen faulen Zauber.
Vorsichtig lasse ich die Flamme von der Spitze des Feuerzeugs in meine geöffnete Handfläche gleiten. Die Flammen zehren von der Finsternis, die ich ihnen gebe. Flackernd tanzen sie über meine Haut, ohne mich jedoch zu verbrennen. Ich spüre ihre Hitze, aber es fühlt sich nicht schmerzhaft, sondern warm und vertraut an.
Als ich den Blick von der Flamme hebe, sehe ich direkt in Hopes fragende Augen. „Wie machst du das?"
„Ich bin mit dieser Fähigkeit geboren worden." Langsam balle ich die Hand zur Faust, sodass die Flammen durch die Ritzen zwischen meinen Fingern züngeln. Als ich die Hand wieder öffne, schießen sie hervor und malen gleißende Linien und verschlungene Formen in die Nachtluft. „Willst du es auch mal probieren?"
„Ich?" Hope verschluckt sich vor Schreck und hustet in ihre Armbeuge. Doch dann überlegt sie es sich anders und streckt mir die Hand entgegen. Ich lege die Flamme hinein und sorge dafür, dass sie ihrer zarten Haut keinen Schaden zufügt. „Das ist kein Trick, oder?", flüstert Hope ehrfürchtig.
„Beweg deine Finger", fordere ich sie auf.
Hope befolgt meine Anweisung und die Flammenzungen beginnen, im Takt ihrer Bewegungen zu tanzen, als wären sie eine Verlängerung ihres Körpers. Ein ungläubiges Glucksen dringt aus ihrer Kehle. Ich sehe, wie sich Feuchtigkeit in ihren Augenwinkeln sammelt. „Das ist total verrückt" Sie blinzelt die Tränen weg. „Also ist es wahr. Du bist echt ein Dämon." Im nächsten Moment scheint ihr klar zu werden, was das bedeutet. „Und du hast mich auserwählt. Wieso? Habe ich etwas falsch gemacht? Werde ich bestraft? Was hab ich getan?"
„Sh, sh, sh", mache ich beruhigend, löse mich von der Ulme und trete ganz nahe an sie heran. Langsam nehme ich ihre Hände und schließe sie um die Flamme, sodass das Feuer erlischt. „Du hast gar nichts falsch gemacht. Wir Dämonen sind nicht dazu da, um euch Menschen zu bestrafen. Und ich habe ganz sicher nicht vor, dir etwas anzutun. Aber ich muss mich ernähren. Daran führt kein Weg vorbei."
Hope sieht mich nicht an. Vielleicht spürt sie instinktiv, dass es um ihre Selbstbeherrschung geschehen wäre, wenn sie mir in die Augen sähe. Der Blick eines Inkubus wirkt wie eine Lupe und kann unsere Anziehungskraft zu einem gleißenden Lichtstrahl bündeln, der alles in Brand setzt, was er berührt. „Und wenn ich mich weigere?"
„Dann werde ich das akzeptieren."
„Wirklich?" Hope klingt nicht überzeugt.
„Wirklich."
Ich meine es ernst. Das ist eine Grenze, die meine Schwester für mich gezogen hat. Und ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Entscheidungen anzuzweifeln. Nicht in weiteren zehntausend Jahren.
„Also wenn du gehen willst, solltest du das jetzt tun."
Hope verschränkt ihre Finger mit meinen Fingern. Ich kann ihren Puls spüren. Das Rauschen in ihren Adern hören. Sie fürchtet sich. Gleichzeitig ist sie halb wahnsinnig vor Neugier. Sie will wissen, wie es wäre, sich auf mich einzulassen. Nur diese eine Nacht. Ohne Verpflichtungen, ohne Risiko, ohne Bedauern. „Und wenn ich nicht gehen will?" Ihre Stimme schwankt wie ein Kahn auf hoher See. Sie ist hin- und hergerissen, was sie klein und schutzbedürftig wirken lässt.
„Dann bleibst du bei mir", erwidere ich, lege eine Hand an ihr Kinn und bringe sie dazu, mich anzusehen.
„Hier draußen?", haucht sie, während sich ihr Blick in meinen Augen verliert und alle ihre Bedenken verpuffen.
„Ist vielleicht ein bisschen kalt und ungemütlich", gebe ich zu bedenken.
Hope nickt. „Ja, das denke ich auch."
„Dann besorge ich uns ein Hotelzimmer. Gerade eben bin ich an einem Hotel namens Plaza vorbeigekommen. Ein schrecklicher Renaissance-Klotz, aber ich denke, wir werden es uns da schon irgendwie gemütlich machen."
Hopes Kichern ist glockenhell und klimpert wie eine Münze in einer Porzellanschüssel. „Das Plaza? Kannst du dir das denn leisten?"
„Das lass mal meine Sorge sein", erwidere ich verschmitzt, streichele ihre Wange und beuge mich vor, um sie zu küssen. Ihre Lippen sind genauso klein und zart, wie ich sie mir vorgestellt habe. Und auch wenn ich mir als Inkubus keine Gefühle für meine Opfer erlaube, die über Zuneigung und eine vorübergehende Verantwortlichkeit hinausgehen, muss ich gestehen, dass es sich gut anfühlt, sie in meinen Armen zu halten und den Geruch ihres Psychors einzuatmen.
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Nachtmahr
Short StoryIgnatius ist ein Inkubus. Als er nach langer Abwesenheit im New York des Jahres 2020 wieder auftaucht, muss er sich in einer neuen Zeit zurechtfinden - und ein passendes Opfer suchen. Triggerwarnungen: (sexuelle) Gewalt, psychische Probleme, sexuell...