Ellis POV
Einige Wochen sind vergangen. Ich habe mich so langsam gut eingearbeitet und mit meiner Chefin komme ich auch zurecht. Wir stehen uns nicht sehr nahe, aber es gab auch keine unangenehmen Zwischenfälle. Sie ist nett, wenn auch distanziert aber ich habe mir vorgenommen, es nicht allzu persönlich zu nehmen. Die Frau steht im Moment einfach unter sehr großem Druck.
*Klopf* *Klopf*
Annalena betritt mein Büro. „Hallo Frau Graubner." Sie schließt die Tür hinter sich und kommt auf mich zu. „Ein paar Kollegen und ich gehen heute Abend zusammen etwas Essen und ich wollte Sie fragen, ob sie vielleicht Lust haben mitzukommen. Wir arbeiten ja noch eine ganze Weile zusammen und es kann sicherlich nicht schaden, wenn wir uns noch etwas besser kennenlernen." Sie lächelt mich an und wartet auf meine Antwort. Sie hat ein schönes Lächeln, aufrichtig, warmherzig. Scheinbar habe ich etwas zu lange auf ihre Lippen gestarrt. „Frau Graubner? Alles in Ordnung?" Lacht sie mir entgegen. Leicht überfordert von der Situation antworte ich: „Äh,.. ja klar Entschuldigung. Ich bin nur etwas überrascht, dass Sie mich zu einem Essen einladen." „Naja, es ist ja kein Date." Und da war sie wieder, meine schlagfertige Chefin, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Ich muss lachen. 'Schade eigentlich.' Denke ich mir. Die Frau hat irgendetwas an sich, dass sie unheimlich attraktiv und anziehend wirken lässt. „Ich weiß, ich bin manchmal etwas forsch in meiner Art. Aber wissen Sie, Frau Graubner. Ich mag Sie. Sie leisten wirklich gute Arbeit, kommen seit Tag zwei immer pünktlich" sie zwinkert mir zu. „Ich würde gerne wissen, was sie für ein Mensch sind. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie heute Abend mit uns Essen gehen." Dieses Lächeln lässt mich nicht lange über dieses Angebot nachdenken. „Ich würde sehr gerne mit Ihnen Essen gehen. Vielen Dank für die Einladung." Antworte ich leise. „Super, dann sag ich Ihnen nachher Bescheid, wann es losgeht." Mit einem letzten Schmunzeln dreht sie sich um und verlässt mein Büro. Jetzt sitze ich da, völlig überfordert mit der Situation und trotzdem unendlich glücklich. Diese Frau macht etwas mit einem. Sie hat eine unglaubliche Präsenz, die jeden Raum erfüllt, den sie betritt.
Ein paar Stunden vergehen. Zwischenzeitlich wurde mir mitgeteilt, dass ich mich zu um 18:00 Uhr bereithalten soll. 17:58 Uhr klopft es auch schon an meiner Tür. „Frau Graubner, sind Sie fertig?" Annalena steht in der Tür und sieht mich erwartungsvoll an. „Ja, ich muss nur noch schnell meine Jacke anziehen." Gesagt, getan. Nun begeben wir uns gemeinsam zum Ausgang des Reichstagsgebäudes und ich spüre eine leichte Nervosität in mir aufsteigen. Wir sagen nichts. Diese peinliche Stille ist erdrückend, aber ich traue mich auch nicht ein Gespräch anzufangen. Noch immer wirkt ihre Präsenz unheimlich einschüchternd auf mich. Also gehen wir nichtssagend weiter bis wir nach einer gefühlten Ewigkeit endlich am Ausgang ankommen. Draußen warten bereits zwei schwarze Vans sowie die restlichen Kollegen. Nach einer kurzen Begrüßung und einer flüchtigen Vorstellung bei allen Kollegen, die mich noch nicht kennen, springen wir in die Autos. Ich steige zuerst ein und rutsche bis an das Fenster der gegenüberliegenden Tür. Ich blicke aus dem Fenster als ich auf ein Mal eine Hand auf meinem Oberschenkel spüre. Ruckartig drehe ich mich um und blicke in Annalenas tiefblaue Augen. Sichtlich irritiert zieht sie ihre Hand weg „Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht erschrecken." Lacht sie mit entgegen. Ich lächle zurück, doch mein roter Kopf spricht Bände. Als das Auto losfährt beginnen auch schon die ersten Gespräche. Es wird hitzig diskutiert über alle möglichen Themen und Annalena ist immer vorne mit dabei. Ich halte mich natürlich zurück und lausche aufmerksam. Die Frau hat echt Durchsetzungskraft und redet wirklich jeden unter den Tisch. „Was lachen Sie denn so, Frau Graubner?" Fragt sie mich amüsiert. „Tut mir Leid, gar nichts. Ich finde es nur wirklich spannend, wie Sie die Männer kurz und klein reden. Sie haben wirklich ein Talent dafür, ein Todschlagargument nach dem nächsten aus dem Hut zu zaubern." Ihr Lächeln wir breiter. „Haha, Danke. Aber bei den Diskussionspartnern ist das auch keine Kunst." Argumentiert sie frech. Alle Lachen und die Stimmung ist gut.
Dann hält das Auto und wir sind da. Alle steigen aus und wir betreten gemeinsam das Restaurant. Im Verlauf des Abends kommt es immer wieder zu Diskussionen. Es wird viel über die Arbeit geredet. Leider kann ich da nicht wirklich mitreden und verhalte mich eher ruhig. Das scheint auch Annalena aufgefallen zu sein. Sie erhebt sich von ihrem Platz und läuft rüber zu meinem. Dann beugt sie sich über meine Schulter und flüstert leise: „Hey, wollen wir vielleicht dort rüber zu dem Sofa in der Ecke gehen? Dann können wir uns ein bisschen unterhalten." Mir läuft sofort ein Schauer über den Rücken. So nah war sie mir noch nie. Schnell drehe ich mich zu ihr um und willige ein. Mit unseren Getränken bewaffnet gehen wir rüber zu dem Sofa und lassen uns nieder. „Und? Wie gefällt es Ihnen bei uns?" Fragt sie, um ein Gespräch zu eröffnen. „Gut, ich glaube ich hab mich mittlerweile ganz gut eingearbeitet. Manchmal sind die Tage zwar etwas lang, aber das gehört eben dazu." Wir verweilen einige Zeit beim Smalltalk doch je mehr Zeit vergeht und je mehr sich unsere Gläser leeren, desto privater und tiefgründiger werden auch die Fragen. Das stört mich nicht. Ich erfahre einige Dinge über sie und ich kann einiges über mich erzählen. Soweit so gut. Doch plötzlich ändert sich die Stimmung. Sie wird ernst. „Darf ich Ihnen mal eine sehr persönliche Frage stellen?" Ich zögere. Ich weiß genau, was sie fragen will. Dan ganzen Abend hatte sie schon auf meinen Arm gestarrt und ich weiß nicht, ob ich bereit bin, diese Frage zu beantworten. Noch nicht. Trotzdem willige ich ein. „Woher kommt die Narbe auf Ihrem Arm, wenn ich fragen darf? Die sieht echt schlimm aus." Und das war sie auch. Die Narbe, die sie sehen kann, und die Narben, die sie in mir hinterlassen hat, noch viel schlimmer. „Schwieriges Thema. Ich rede da nicht drüber." Ich versuche das Thema so schnell es geht zu beenden, doch sie sieht mir deutlich an, dass mir dieses Thema schwer auf der Seele liegt. Verständnisvoll, wenn auch besorgt, beginnt sie ein anderes Thema und spricht es auch im Verlauf des Abends nicht noch ein Mal an, wofür ich ihr sehr dankbar bin.
Der Rest des Abends verläuft ruhig, auch wenn die Fragen nicht mehr so weit in die Tiefe gehen und wir uns, nach diesem Gespräch, wieder auf Smalltalk konzentrieren.