6 Monate später
Aurora Arcturus
"Ich soll im Namen des Chefkochs ausrichten, dass es ihm herzlich leidtut, heute keinen Kuchen servieren zu können"
Aurora Arcturus drehte sich zu der jungen Angestellten herum, die im Krankenzimmer der Königin stand und nun ein Tablett mit frischem Brot und Obst auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster abstellte. Aurora war nicht überrascht. Kuchen war schon seit einigen Wochen eine Seltenheit, selbst für die Köche am königlichen Hof war es mittlerweile schwer, an Zucker zu kommen.
Die Prinzessin lächelte also nur schwach, als sie sich am Fenstersims abstützte und sich bei der jungen Frau bedankte. Ihre reglos daliegende Mutter, die Königin von Phoenix, ruhte in einem breiten Bett einige Meter von ihr entfernt in dem abgedunkelten Raum. Die restlichen Fenster waren geschlossen und mit schweren Vorhängen verdeckt, um die schwüle Hitze auszusperren.
Aurora griff nach einer Scheibe Brot, doch bekam kaum einen Bissen hinunter. Am anderen Ende der Stadt waren die Kinder von leblosen Eltern am Verhungern. In den Dörfern wartete das hungernde Vieh darauf, gemolken und gefüttert zu werden. Und hier war sie – an der Spitze der Nahrungskette – wohl kaum in der Position, sich darüber zu beschweren, dass es zu wenige Bauern zum Ernten der Zuckerrüben gab.
Sie wollte etwas zu der Krankenschwester sagen, die sich seit Monaten um die Königin kümmerte. Etwas ermunterndes, etwas Hoffnungsvolles. Doch in diesem Augenblick, dröhnte ein lauter Schlag durch den Raum und ließ die Prinzessin herumfahren.
Zunächst war Aurora sich sicher, dass es gewiss nur die Glocken in den Glaubenshäusern waren, die schlugen. Doch es war nicht das Muster der täglichen Erinnerung an das Gebet; die Glockenschläge kamen auch nicht aus der Stadt. Sie kamen von den Wachtürmen um den Palast herum und von den Türmen an der Stadtmauer.
Auroras Hände verkrampften sich auf dem Fenstersims.
Sie wusste ganz genau, was dieser Alarm bedeutete.
Er war hier.
Der Sandmann war hier.
Es waren Glockenschläge, die sie seit Monaten fürchtete und trotzdem sehnsüchtig erwartete. Rhythmisch läuteten die lauten Schläge der Glockentürme rings um die Stadt und den Palast herum und bahnten sich den Weg durch das geöffnete Fenster in das Krankenzimmer der Königin Leandra Arcturus.
"Soll ich Ihnen noch etwas bringen, Königliche Hoheit?"
Aurora musterte die Angestellte, die nun den Kopf ergeben neigte. Zweifellos versuchte die junge Frau, Ruhe zu bewahren und die Glockenschläge zu ignorieren, die ihre Worte untermalten, doch ihre Stimme war zittrig. Auch sie wusste, was der Alarm bedeutete.
"Nein, vielen Dank", sagte Aurora und ließ den Blick ein letztes Mal aus dem Fenster schweifen.
Die Dächer von Tronos, der Hauptstadt von Phoenix, waren vom Krankenflügel aus zu überblicken. Normalerweise hätte Aurora die Aussicht genossen, doch überall, wohin sie jetzt blickte, schien der Sandmann seine Spuren hinterlassen zu haben. Die Stadt lag auf einem Hügel, gekrönt vom Palast, als das einzige Gebäude, das noch intakt zu sein schien. Jetzt traf die gnadenlose Morgensonne auf jeden Fleck des Landes, den Aurora von hier aus sehen konnte. Von den Wäldern bis hin zu dem Fluss, an dem sich die Dörfer ansiedelten. Dörfer, die sich in den letzten Wochen in Geisterstädte verwandelt hatten. Mit Häusern, die nicht mehr aufgerichtet werden konnten, mit Feldern, die nicht mehr bestellt wurden und Massengräbern, die einen verwesenden Geruch über das Land sandten.
Die Hitze der weiten Wüste oder die Fallen der gefährlichen Berglandschaft am Horizont waren lange nicht mehr der Grund, weshalb sich die Bewohner von Phoenix Tag und Nacht vor etwas fürchteten, was bisher niemand überlebt hatte, um davon zu berichten. Selbst der weite Ozean im Westen war keine Gefahr mehr, da sich seit Monaten kein Pirat mehr an die Küste von Phoenix getraut hatte.
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Der Sandmann
FantasiAurora Arcturus, Prinzessin von Phoenix, tauscht ihre Krone lieber gegen einen Kampfstock in der Hand und ein Langschwert auf dem Rücken. Sie gehört zu den besten Kriegern des Landes und den klügsten Köpfen im Palast. Sie ist nicht Prinzessin, sie i...