Jenseits des Horizonts

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Grummelnd wachte er auf und rieb sich über die Augen. Er hatte es tatsächlich geschafft, am Schreibtisch einzuschlafen mit dem Kopf auf eben diesem. Es dauerte einen Moment, bis er das Geräusch, welches ihn aus dem Traumland geholt hatte, identifizierte. Das war einfach noch zu ungewohnt für ihn und die Situation zu neu. "Ich komme ja, Kleine.", fuhr er sich durch die blonden Haare und erhob sich. Sich über das Bettchen beugend, schaute er in das kleine Gesicht. "Hey, Sch... Sch... Sch...", streichelte er mit seinem Finger über die Wange. Augenblicklich hörte das Mädchen auf zu weinen und sah ihn mit großen blauen Augen an. "Mein kleiner Quälgeist.", grinste er und sie gluckste leise. "Gestattet mir die kleine Prinzessin wenigstens ein frisches Hemd?", legte er das Haupt schräg. Natürlich reagierte das Baby darauf nicht weiter. Schnell zog er sich um und hob sie dann auf den Arm. Nachdem er die Windeln gewechselt hatte, machte er sich mit ihr auf zur Kombüse.

Seit zwei Wochen war sie nun auf dem Schiff. Den Tag, als sie sie gefunden hatten, würde er nie vergessen.

Flashback

Die Bande eilte durch die kaputten Straßen der Stadt und vorbei an den Trümmern der zerstörten Gebäude. Sie hatten die Marine noch ablegen und davonsegeln sehen, was bedeutete, dass sie fast rechtzeitig gewesen waren. Dieser Umstand schmerzte alle am meisten, hätten sie es doch verhindern können. Der ganze Ort war ein Bild der Verwüstung und man konnte nicht mal mehr erahnen, wie schön er einstmals war. Bei ihrem letzten Aufenthalt hier hatten sie viel gefeiert und gelacht. Die Meisten hatten sich in den Nächten mit Frauen vergnügt und so mancher wollte seine Dame der Wahl von damals wieder sehen, doch auch das war nun nicht mehr möglich. Bis jetzt hatten sie keine Überlebenden gefunden.

Ein kleineres Grüppchen eilte mit ihm gerade den Hügel hinauf, auf dem die Villa stand, oder besser gesagt, gestanden hatte, in der sie damals ein Dach über dem Kopf bekommen hatten. Die Bewohnerin war eine herzensgute Frau gewesen und ihre Angestellten wahrlich treue Seelen. Mit zusammengepressten Kiefern ging er durch den Schutt und die Mauer Bruchstücke. Zweifelnd sah er sich um. Es konnte doch nicht wirklich auch sie erwischt haben. "Vielleicht sollten wir...", erklang es hinter ihm von einem Brünetten. "Nein.", sagte er ernst. Er brauchte einen Beweis, dass sie tot war und es wirklich keine Hoffnung mehr gab.

Als die ersten Sterne den Himmel zierten, waren alle Männer erschöpft und jene, die die Stadt durchsucht hatten, schon zurück auf dem Schiff. Nur in den Ruinen der ehemaligen Villa liefen Lichtquellen umher, es waren Fackeln, die von den Piraten getragen wurden. "Meinst du nicht, dass es reicht?", legte ihm einer eine Hand auf die Schulter. Widerwillig schüttelte er den Kopf. Zahlreiche Leichen hatten sie bereits gefunden, doch sie war nicht dabei gewesen. Stumm seufzten die anderen Freibeuter, konnten sie ihn ja verstehen, doch war allen klar, dass sie nicht mehr leben konnte. Lediglich das Knistern der Flammen war zu vernehmen und er sackte ein Stückchen mehr in sich zusammen, wusste er doch, dass sie Recht hatten, aber er konnte es einfach nicht akzeptieren. Irritiert horchte er auf. Was war das denn für ein Geräusch? "Hörst du das auch?", griff er den Mann neben sich am Oberarm. "Das bildest du dir...", setzte er an und verstummte. Tatsächlich war dort etwas. Langsam gingen die beiden in die Richtung, aus der die nun kräftiger werdenden Laute kamen.

Sie standen vor einer eingestürzten Wand, an der sie schon etliche Male während ihrer Suche vorbeigekommen waren. "Das kommt von da unten.", murmelte er, als er sich auch schon hin hockte. Mit seinen Händen schob er den Schutt zur Seite und zum Vorschein kam ein verdreckter Teppich, den er unbeachtet fort warf. Er hielt inne, als er die Falltür sah. Vorsichtig öffnete er sie und eilte dann die freigelegte Treppe hinunter. Das flackernde Licht der Fackel, die der Brünette hielt, der hinter ihm lief, tauchte die Szenerie in einen warmen Schein. Langsam ging er auf den geflochtenen Korb in der einen Ecke zu. Als er davor stand, ließ er sich auf ein Knie nieder. Sachte griff er an den Stoff des kleinen Bündels und zog ihn ein Stück beiseite. Große blaue Augen schauten ihn unschuldig an. "Ein Glück.", kam es erleichtert von ihm. Behutsam hob er das Baby auf seine Arme und sie verließen die zerstörte Villa, die Stadt und die Insel.

Er war mehr als nur froh, dass sie sie gefunden hatten und er würde alles dafür tun, dass sie friedlich und behütet aufwuchs. Der Mann betrat den Speisesaal und setzte sich auf seinen angestammten Platz. "Morgen.", wurde er von den anderen gegrüßt. "Ich habe die Milch schon mal fertig gemacht.", reichte ihm ein Brünetter das Fläschchen. Routiniert legte er sich ein Tuch über die Schulter und fütterte das Mädchen.

"Gib sie mir doch mal, Marco.", lächelte sein Kapitän ihn an, als das Baby satt war. "Natürlich, Vater.", stand der Vize auf. Vorsichtig legte er die Kleine in die große Hand. Der Kaiser betrachtete sein Kind. So sehr erinnerten ihn ihre Augen an die von ihrer Mutter Amanda. Edward hatte sie geliebt und sie ihn. Die Nachricht von der Schwangerschaft hatte ihn unfassbar glücklich gemacht, doch konnte er nicht sofort wieder zu ihr. Die Insel, auf der sie gelebt hatte, lag nicht in seinem Gebiet, wodurch ein zu häufiger Aufenthalt dort gefährlich auffällig gewesen wären. Er hatte sich entschlossen, ihr ein silbernes Armband mit einer kleinen Plakette daran durch einen Boten zukommen zu lassen, samt einer Nachricht. Sobald er könnte, würde er wieder zu ihr kommen und dann würden sie den Weg für eine gemeinsame Zukunft finden. Hätte er da schon geahnt, wie alles kommen würde, wäre er sofort aufgebrochen und bei ihr geblieben. Die Schuld nagte an ihm, auch wenn ihm klar war, dass sie das nicht gewollt hätte. Dazu kam, dass er für seine Söhne stark sein musste, brauchten sie ihn ja ebenfalls, genauso wie auch seine Kleine.

Zuerst hatte er darüber nachgedacht, sie auf eine andere Insel zu bringen, doch dagegen wurden zu viele Proteste ausgesprochen und am lautesten war Marco gewesen. Nachdem der Vize das Mädchen untersucht hatte, kam er zu dem Ergebnis, dass sie wohl ruhig gestellt worden war. Anders war es auch nicht zu erklären, wie die Marine sie hätte nicht hören können. Dann war sein Gedanke gewesen, dass die Krankenschwestern sich kümmern sollten. So war es dann auch zwei Tage gewesen, doch am Dritten stand der Blonde mit seiner Tochter im Arm bei ihm in der Tür und hatte ihm mitgeteilt, dass die Frauen zu verantwortungslos seien, weswegen er das übernehmen würde.

Keine Sekunde hatte der Vize diese Entscheidung bereut. Klar, war es aufwendig, sich um einen Säugling zu kümmern. Doch wäre sie bei den aufgetakelten Zicken, könnte er sowieso keine Minute mehr ruhig schlafen. Wie konnte einem das eigene Vergnügen wichtiger sein, als ein Baby? Selbst wenn es nicht das eigene war. Dieses Verhalten wollte er gar nicht verstehen können. Außerdem war die Kleine alles in allem recht pflegeleicht und ein Blick in die ozeanblauen Augen entschädigte sowieso für alles. Sie würde ja auch nicht ewig so klein bleiben... Bei dem Gedanken hielt er inne. Ab da würde es wohl auf der Moby noch belebter werden. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht.

Edward betrachtete noch immer sein Mädchen. "Welche Abenteuer dich wohl auf der Reise deines Lebens erwarten?", murmelte er, während er über die Gravur der Plakette an ihrem Armband fuhr. Hätte er es seiner Liebe damals nicht geschickt, wüsste er nicht mal, welchen Namen Amanda ihrer Tochter gegeben hatte. Die filigranen Buchstaben glänzten im Licht. "Seren.", flüsterte er glücklich lächelnd.

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