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Am nächsten Morgen setzte sie sich wie immer mit ihrem fröhlichen „Guten Morgen!" auf den Lippen auf den Platz ihm gegenüber als wäre die Sache mit den Würmern nie geschehen. Es war zum Verrücktwerden!
Allerdings hätte er sich auch denken können, dass so eine dämliche Muggel-Methode nicht wirklich erfolgreich sein würde. Er musste etwas Richtiges versuchen.
Vielleicht sollte er beim nächsten Mal Gift in ihre Suppe tun? Doch wenn er hier im Waisenhaus den Tod eines Muggelmädchens verursachte, würde die Nachricht davon schneller in Hogwarts ankommen als er Lumos sagen konnte, und an die Konsequenzen wollte er gar nicht denken. Er musste anders vorgehen.
Vielleicht sollte er einfach etwas zerstören, das ihr gehörte? Etwas, das ihr viel bedeutete... Ja, das war es! Damit hatte er schon früher großen Erfolg bei den Kindern im Waisenhaus gehabt. Dafür brauchte er keine Magie und wenn er es geschickt anstellte, würde außer ihr niemand herausfinden, wer dafür verantwortlich war. Und sie würde es nicht beweisen können.
Als sie ihn dieses Mal anlächelte, erwiderte er ihr Lächeln ein ganz klein wenig. Sie hatte ja keine Ahnung, worüber er gerade nachdachte!

Als das Frühstück vorüber war, rief sie ihm noch freudestrahlend zu: „Wir haben heute gemeinsam Flurdienst!", ehe sie mit fliegenden Zöpfen davonsprang.
Tom verdrehte innerlich die Augen. Woher nahm sie nur immer diese gute Laune? Und wie konnte sie ausgerechnet Flurdienst ankündigen, als ginge es darum, ein Fest zu feiern? Flurdienst war eine der größten Qualen, die es im Waisenhaus gab. Und dann auch noch mit ihr!

***

Pünktlich um 9 Uhr fanden sie sich im Eingangsflur des Waisenhauses ein, wo schon zwei Eimer mit kalter Seifenlauge bereitstanden, neben denen zwei kleine harte Bürsten lagen. Jede Woche waren zwei Kinder zum Flurdienst eingeteilt. Sie mussten den gesamten Eingangsflur von der Tür bis zur Treppe schrubben – mit den Händen und auf Knien!
Für Tom war es die schlimmste Erniedrigung, die er sich vorstellen konnte, besonders jetzt, seitdem er wusste, wer er war und wohin er gehörte. Er, ein Zauberer, der über ihnen allen stand, musste hier vor den Muggeln auf Knien herumrutschen und sich die Finger wundschrubben!

Das Mädchen begrüßte ihn mit ihrem üblichen Strahlen.
„Hallo, Tom!", rief sie ihm zu.
Ihm fiel gar nicht auf, dass die Begrüßung anders war als sonst, ehe sie hinzufügte: „Siehst du, ich weiß jetzt, wie du heißt! Betty hat es mir gesagt. Tom Riddle – ein wirklich schöner Name! Wie ein Rätsel. Er passt zu dir!"
Tom schnaubte nur verächtlich. Zugleich musste er sich eingestehen, dass er nicht wusste, wie sie hieß. Sie hatte es ihm am ersten Abend gesagt, aber er hatte es gleich wieder vergessen, es hatte ihn nicht interessiert. Irgendein unbedeutender Muggelname.
Obwohl sein eigener Name da auch nicht viel besser war, wenn er ehrlich sein sollte. Er verabscheute ihn. Er war so gewöhnlich, dass jeder beliebige Straßenjunge ihn hätte tragen können. An jeder Ecke hieß jemand Tom, es war sogar eine Redewendung für unbedeutende Leute, every Tom, Dick, and Harry. Als ob er jemals unbedeutend sein könnte, oder mit irgendjemandem zu vergleichen!
Aber er war sich nicht sicher, ob Riddle so viel besser war. Gleich am allerersten Abend in Hogwarts hatte Nott, der von sich behauptete, sich besonders gut mit magischen Familien und deren Abstammung auszukennen, die Dreistigkeit besessen, ihm auf ziemlich unverschämte Weise vorzuhalten, dass Riddle kein Zauberername sei. Tom hatte noch am selben Abend dafür gesorgt, dass Nott es nie wieder wagen würde, etwas gegen ihn oder seinen Namen zu sagen. Aber dennoch hatten die Worte des anderen Jungen ihn nicht mehr losgelassen. Er hatte sich beinah vom ersten Tag an auf die Suche begeben. Er würde schon noch herausfinden, dass sein Vater ein großer Zauberer gewesen war. Er würde den anderen schon noch beweisen, dass er auf eine großartige Abstammungslinie zurückblicken konnte!
Ärgerlich schob er den Gedanken an Nott beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. Er wollte ihr nicht die Genugtuung geben, sie jetzt nach ihrem Namen zu fragen. Er würde ihn schon noch irgendwie herausbekommen, damit er ihr Zimmer finden und ihre Sachen zerstören konnte.

Jetzt aber tat er es ihr nach, kniete sich auf den Boden und fing mit dem Schrubben an. Oh, wie er es verabscheute! Doch er konnte nichts dagegen tun, solange er hier war. Dabei hatte er sich schon immer nach dem Sinn gefragt. Das hier musste der sauberste Flur in ganz Großbritannien sein, so oft wie er geschrubbt wurde. Und doch fanden die Kinder in jeder Woche wieder genügend Dreck vor, um bis zum Mittagessen beschäftigt zu sein. Er fragte sich manchmal, ob Mrs Cole am Morgen des Putztags selbst dafür sorgte, dass der Flur so dreckig wurde. Vielleicht genoss sie es einfach, die Kinder regelmäßig vor ihrem Büro auf die Knie zu zwingen.
Wenn er ihr nur ein einziges Mal zeigen konnte, wer er wirklich war! Er würde hier stehen, seinen Zauberstab hoch in die Luft erhoben, und sie mit der Kraft seiner Magie zwingen, vor ihm auf dem Boden zu kriechen. Er würde ihr eine winzige Bürste in die Hand geben und aus den Fugen zwischen den Dielen würde er Schleim und Eiter hervorquellen lassen. Jedes Mal, wenn sie sich aufrichten wollte, um ihren Rücken zu strecken, würde er sie mit feurigen Magieschlägen zurück auf den Boden zwingen. Und er würde ihr zurufen: „Putzen Sie schneller, Mrs Cole! Putzen Sie schneller, wenn Sie in dem Zeug nicht ertrinken wollen!"
Doch egal wie schnell sie putzen würde, er würde dafür sorgen, dass es niemals schnell genug wäre. Und er würde hier stehen und lachen, ganz laut lachen. Ein hohes, kaltes Lachen, das das ganze Waisenhaus erfüllte und von den Wänden widerhallte.
„Tom", riss die Stimme des Mädchens ihn aus seinen Gedanken, „wenn du immer nur dieselbe Stelle schrubbst, werden wir nie fertig."
Er schaute auf und blickte zu ihr hinüber. Tatsächlich hatte sie schon mehrere Dielen bearbeitet, während sich vor ihm nur ein kleiner, dunkler Fleck befand, auf dem bereits die Seifenblasen perlten. Er warf ihr einen wütenden Blick zu, presste die Lippen aufeinander und begann, sich an der Diele entlang zu arbeiten, so wie sie es tat.
Er würde sie direkt neben Mrs Cole schrubben lassen!

Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zu Mrs Coles Büro und die Heimleiterin trat heraus. Für einen Augenblick blieb sie stehen und sah der Arbeit mit in die Hüften gestemmten Händen zu. Dann trat sie mit einem Mal ganz dicht an das Mädchen heran.
„Liza Reddish", sagte sie mit ihrer rauen Stimme – aha, das war also ihr Name – „was tust du hier?"
Das war allerdings eine seltsame Frage. Tom unterbrach seine Arbeit und beobachtete, wie Liza sich aufrichtete und Mrs Cole anlächelte.
„Betty sagte heute Morgen, dass es ihr nicht gut ging. Da habe ich angeboten, mit ihr zu tauschen", erklärte sie.
Tom traute seinen Ohren nicht. Sie hätte heute eigentlich gar keinen Flurdienst gehabt? Dass andere Kinder plötzlich krank wurden, wenn sie mit ihm für einen Dienst eingeteilt waren, kannte er schon von früher. Sie wollten nicht mit ihm allein sein. Sie hatten Angst, dass ihnen dann seltsame Dinge zustießen. Er hasste die Kinder in solchen Momenten noch mehr als sonst, denn schon oft hatte er eine Arbeit ganz alleine erledigen müssen und deshalb viel länger dafür gebraucht.
Aber diese verrückte Liza hatte sich freiwillig gemeldet? Zum Flurdienst? Mit ihm? Seine Hand verkrampfte sich um die kleine Bürste. Warum tat sie so etwas?

„Ähm – nun ja", machte Mrs Cole, „wenn das so ist."
Anscheinend fand sie nichts, was sie daran aussetzen konnte.
„Aber damit eines klar ist", fügte sie hinzu, „es ist zwar sehr löblich, dass du für ein krankes Mädchen einspringst, aber an der weiteren Einteilung ändert sich dadurch nichts. Du wirst ganz normal auch deine Schicht in der nächsten Woche übernehmen. Nicht, dass hier noch alles durcheinander gerät."
Tom bemerkte nur ein winziges Zögern, ehe Liza erwiderte: „Ja, natürlich Mrs Cole."
Selbstgefällig drehte sich die Leiterin um und stapfte Richtung Treppe davon.

Wenn sie ihn so behandelt hätte, hätte Tom nicht dafür garantieren können, dass er sich noch eine Sekunde länger an das Magieverbot hielt. Wahrscheinlich hätte sie noch nicht einmal mehr lebend die Treppe erreicht.
Er beobachtete Liza aufmerksam, gespannt auf ihre Reaktion. Sie saß vollkommen reglos da. Nur ihre Lippen bewegten sich und er glaubte schon, sie würde jeden Augenblick anfangen zu heulen.
Dann aber erkannte er, dass sie vor sich hin murmelte. Erst war es so leise, dass er nichts verstehen konnte, doch dann wurden ihre Worte lauter: „Es ist gut. Ich kann froh sein, dass sie mich auch in der nächsten Woche den Flur putzen lässt. Ja, ich kann wirklich froh darüber sein. Die Samstagvormittage sind so langweilig hier, man sitzt herum und bekommt Heimweh. Aber dies ist eine gute und sinnvolle Arbeit. Und es ist eine gute Ablenkung-"
Sie brach ab und plötzlich erschien wieder dieses Strahlen auf ihrem Gesicht, dieses unglaubliche Strahlen, das sie geradezu leuchten ließ, so sehr, dass es fast wirkte, als würde der ganze graue Flur dadurch ein wenig heller werden.

„Ich kann es!", rief sie aus. „Es funktioniert! Siehst du, Tom, ich-"
Sie war aufgesprungen und hatte einen Schritt in seine Richtung gemacht, doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne, als würde ihr erst jetzt bewusst werden, was sie tat. Sie wirkte fast ein wenig beschämt, als sie zurückging und sich wieder neben ihren Eimer kniete, doch ihr strahlendes Lächeln hatte nicht eine Sekunde geflackert.
„Ich wusste, dass ich es irgendwann schaffen würde", fügte sie leiser hinzu.
„Was?", entfuhr es ihm.
Sie sah ihn an. Ihre hellblauen Augen glänzten. „Etwas zu finden, worüber ich froh sein kann", flüsterte sie.

Er starrte sie immer noch an und versuchte, von dem, was sie sagte, irgendetwas zu verstehen. Für ihn ergab das alles überhaupt keinen Sinn.
„Froh?", fragte er schließlich, ebenso leise.
Worüber? Was sollte das bringen?
Doch sie nickte. „Ich bin froh, dass Mrs Cole mich auch in der nächsten Woche hier arbeiten lässt", sagte sie.
Er schüttelte heftig den Kopf. „Aber das ist die größte Ungerechtigkeit, die-"
„Nein!", unterbrach sie ihn. „Im ersten Augenblick habe ich das auch gedacht. Aber dann habe ich verstanden, dass ich dankbar sein kann. Ich habe eine sinnvolle Aufgabe. Es ist anstrengend, aber gleichzeitig ist es auch gut, etwas zu tun zu haben. Die Arbeit lenkt mich von traurigen Gedanken ab, aber gleichzeitig habe ich den Kopf frei, um an etwas Sinnvolles zu denken. Man kann dabei zum Beispiel wunderbar Kopfrechnen üben. Und es ist wahr, je schwerer es ist, etwas Frohes zu finden, desto froher macht es, wenn man es dann gefunden hat. Wirklich, Tom, du solltest es auch einmal versuchen!"
Ihre Stimme war immer begeisterter geworden, gleichzeitig wurde er immer fassungsloser. Sie war wirklich verrückt, so viel stand fest, auch wenn er von ihrem Gerede wieder nur die Hälfte verstanden hatte.
„Ich werde niemals über irgendetwas hier froh sein und schon gar nicht über Flurdienst!", zischte er und wandte sich demonstrativ von ihrem strahlenden Gesicht ab.

Er versuchte, sie gar nicht mehr zu beachten, während er seine Bürste mit schnellen kräftigen Bewegungen über die Dielen fahren ließ. Doch ihre Worte hatten in seinem Kopf irgendetwas ausgelöst. Den Kopf frei haben, um an etwas Sinnvolles zu denken. Mit einem Mal ertappte er sich dabei, dass er mit den Gedanken mitten in der Zutatenliste für den Vergesslichkeitstrank steckte.
Als sie sich eine Stunde später in der Mitte des Flurs trafen, beide eine große Fläche glänzender Dielen hinter sich, hatte er ein Dutzend Zaubertrankrezepturen rekapituliert und kein einziges Mal an Mrs Cole gedacht. Zudem hatten sie die Arbeit schneller erledigt als jemals zuvor.

Liza erhob sich und streckte sich. „Puh", machte sie, „wie gut, dass wir noch fast eine Stunde Zeit bis zum Mittagessen haben. Ich muss dringend unter die Dusche."
„Ja, geh nur", murmelte Tom. Das war seine Gelegenheit, unbemerkt ihr Zimmer aufzusuchen. Gedankenverloren schaute er ihr nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.
Sie hatte ihren Eimer einfach neben seinem stehenlassen. Doch in diesem Augenblick ärgerte er sich nicht darüber, schnell räumte er beide Eimer und die Bürsten weg und eilte dann selbst die Treppe hinauf.

Die Zimmer der Mädchen befanden sich ein Stockwerk über denen der Jungen. Fast sofort hatte er Lizas Zimmer gefunden. Niemand sah ihn, als er den kleinen Raum betrat und leise die Tür hinter sich schloss.
Das Zimmer des Mädchens sah fast genau so aus wie sein eigenes. Das gleiche Bett mit dem eisernen Gestell und den grauen Decken, der gleiche alte Kleiderschrank, der gleiche hölzerne Tisch mit dem harten Stuhl davor. Ansonsten war der kleine Raum vollkommen kahl.
Tom blickte sich suchend um, um Hinweise auf etwas zu finden, das Liza besonders viel bedeuten mochte. Doch auf den ersten Blick sah er nichts dergleichen. Vorsichtig öffnete er den Schrank. Auf der Stange hing nur die Kleidung, die das Waisenhaus seinen Kindern zur Verfügung stellte: ein Kleid zum Wechseln, zwei Schürzen, ein Mantel für die kältere Jahreszeit, alles in dem üblichen einheitlichen Grauton. Auf dem Bord oben im Schrank lag nichts weiter als ein kleiner Stapel sauberer Wäsche neben ein paar Waschutensilien.
Seine Finger glitten in die Taschen des Mantels. Leer.

Enttäuscht ließ Tom die Schranktür zufallen. War es denn möglich, dass sie überhaupt nichts Eigenes besaß?
In den Zimmern der anderen Kinder hatte er immer etwas gefunden. Erinnerungen an ihre verlorenen Familien. Geschenke, die sie im Laufe der Zeit bekommen hatten. Kleine Dinge nur, aber Dinge, die ihnen so viel bedeuteten und deren Verlust ihnen so großen Schmerz bereitete.
Irgendetwas musste doch da sein! Sein Blick glitt über den Tisch, auf dem nur einige Schulhefte und ein Mäppchen mit Stiften lagen, und blieb dann an einem Buch auf der Fensterbank hängen.
Doch kaum hatte er einen Schritt darauf zu gemacht, hielt er abermals enttäuscht inne. Diesen Band mit Lyrik Lord Byrons mit seinem abgegriffenen, fleckigen Einband hatte er selbst schon viel zu oft in der Hand gehabt. Er stammte aus der spärlich bestückten Bibliothek des Waisenhauses.

Sie besaß weniger als er selbst, wenn sie nicht einmal eigene Bücher hatte! Aber wie konnte das sein? Wie konnte ein Mädchen, das schon mehrere Jahre gelebt hatte, ins Waisenhaus kommen, ohne irgendetwas zu besitzen?
Zum ersten Mal fragte er sich, woher sie kam und weshalb sie hier war. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. Etwas, das sie gesagt hatte, während sie so begeistert über den Flurdienst geredet hatte.
Sie hatte von Heimweh gesprochen.

Mit einem Mal wusste er, wonach er suchen musste. Sie mochte keine wertvollen Dinge besitzen, aber sie besaß etwas, das für sie vielleicht noch viel wertvoller war. Ihre Erinnerungen. Ihre unerträgliche gute Laune.
Er musste nur etwas mehr über sie herausfinden. Aber das sollte einfach sein. Sie wollte ja reden. Er musste sie nur reden lassen. Etwas aufmerksamer zuhören. Vielleicht hier und da eine geschickte Frage stellen. Dann würde er schon sehr bald etwas gefunden haben, was er nutzen konnte, um es gegen sie zu verwenden und sie in ihre Schranken zu weisen.

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt