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Eine Rauchschwalbe schoss direkt über ihre Köpfe hinweg und glitt elegant hinauf zu ihrem an einem der Dachbalken klebenden Nest, aus dem sogleich das aufgeregte Piepsen ihrer Jungen ertönte.
„Er kommt heute", murmelte Liza.
„Warum willst du ihn unbedingt kommen sehen?", fragte Betty.

Die beiden Mädchen kauerten Seite an Seite auf dem Dachboden des Waisenhauses, direkt vor dem Loch im Giebel, durch das man hinaus auf den Hof spähen konnte, bis zum Tor und ein Stück die Straße entlang.
„Nur so", erwiderte Liza.
Sie wusste selbst nicht so genau, warum, aber sie wollte sehen, wie Tom Riddle in das Waisenhaus zurückkehrte. Sie hatte ein Jahr lang auf ihn gewartet. Vor einem Jahr hatte sie herausgefunden, dass er ein Zauberer war. Ein wirklicher, echter Zauberer. Der eine wirkliche, echte Zauberschule besuchte.
Er hatte ihr versprochen, dass er ihr seine Magie eines Tages zeigen würde. Es war ein seltsamer Moment gewesen. Sein Versprechen hatte beinahe wie eine Drohung geklungen und die Dunkelheit, die ihn umgab, hatte sich ausgebreitet, als wollte sie nach ihr greifen.
Doch Liza konnte und wollte so etwas nicht glauben. Magie war etwas Wunderbares! Allein schon zu wissen, dass sie wirklich existierte, ließ Liza das ganze Leben viel leichter erscheinen.
Nachdem Tom ihr das Versprechen gegeben hatte, hatte Liza noch ein paar Mal versucht, ihn darauf anzusprechen. Auf Magie, Zauberei, die Schule, die er besuchte. Doch er war wieder so verschlossen gewesen wie schon zu Anfang, vielleicht sogar noch verschlossener, und hatte alle Gesprächsversuche abgeblockt.
Dann war der September gekommen und er war abgereist. Nach Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei.

Heute aber würde er zurückkommen. Liza konnte schon seit Tagen kaum noch an etwas anderes denken. Natürlich hatte sie mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal Betty hatte sie den wirklichen Grund dafür anvertraut, dass sie Toms Rückkehr so sehr entgegenfieberte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass dies ein Geheimnis war, über das man besser nicht mit anderen sprach.
Doch mit Tom wollte sie darüber sprechen. Sie würde ihn in diesem Sommer bitten, ihr mehr über Magie zu erzählen. Wenn sie es geschickt anstellte, würde sie ihn schon zum Reden bringen. Als Allererstes wollte sie ihm einen netten Empfang bereiten. Sie hatte extra ein Tütchen mit besonders guten Schokoladenbonbons gekauft und dafür einen großen Teil ihrer gesparten Schularbeiten-Pennys ausgegeben. Das wollte sie ihm zur Begrüßung schenken, um ihn willkommen zu heißen.

„Da!", riss Betty sie aus ihren Gedanken, in denen sie sich das Wiedersehen mit dem jungen Zauberer ausmalte.
Tatsächlich, da war er. Allein kam er die Straße entlang, in der Hand den gleichen abgenutzten Koffer, den sie schon im letzten Jahr bei ihm gesehen hatte. Auch heute trug er dunkle Kleidung und eine Jacke mit langen Ärmeln, obwohl es mitten im Sommer war. Seine schwarzen Haare umrahmten das Gesicht, das immer ein wenig blass wirkte.
Eigentlich sah er noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Nur ein wenig größer war er geworden. Doch trotz der dunklen Aura, die Liza auch jetzt wie einen geheimnisvollen Schleier um ihn herum wahrnahm, sah er noch immer ungewöhnlich gut aus. Abgesehen von einem missmutigen Ausdruck, der sich beim Anblick des Waisenhauses wie ein Schatten über sein hübsches Gesicht gelegt hatte.
„Komm!", raunte sie Betty zu und erhob sich, um den Dachboden zu verlassen. Betty folgte ihr und sie rannten über die Dielen Richtung Treppe. Die alte Schleiereule, die ganz oben unter dem Dachfirst hockte, öffnete missmutig ein Auge und starrte hinunter auf die beiden Mädchen, die mit ihren hastigen Schritten ihre Ruhe störten.

***

Liza zögerte nur kurz, bevor sie an seine Tür klopfte. Ein undefinierbares Brummen ertönte von der anderen Seite, das genauso gut „Hau ab" wie „Herein" bedeuten konnte. Liza entschied sich für Letzteres und trat ein.
Tom, gerade damit beschäftigt, seinen Koffer unter das Bett zu schieben, kniete auf dem Boden und sah zu ihr auf.
„Du", knurrte er und blickte sie böse an, so wie er es schon im letzten Sommer immer wieder getan hatte, „hätte ich mir ja denken können. Was willst du?"
„Ich-" Liza schloss die Tür hinter sich und trat einen Schritt auf ihn zu. Unter seinem Blick fühlte sie sich plötzlich nervöser als erwartet. „Ich – wollte dir nur – ähm, sagen – herzlich willkommen zu Hause!"
Das Schnauben, das er ausstieß, während er sich erhob, war mehr als verächtlich. „Das hier ist nicht mein Zuhause! Und ich hatte auch nicht gedacht, dass es deins wäre."
Liza schluckte. Natürlich hatte er recht und eigentlich hatte sie auch etwas ganz anderes sagen wollen.
„Nein", setzte sie noch einmal an, „ähm – ich meine – einfach nur herzlich willkommen. Und – ähm – eigentlich wollte ich dir auch nur das hier geben."
Schnell holte sie das Tütchen aus der Tasche ihrer Schürze. Tom starrte auf das Tütchen und dann wieder auf ihr Gesicht.
„Was soll das sein?"
„Schokolade", murmelte sie und zwang sich zu einem Lächeln, „für dich."
Wieder ein Schnauben. Seine Stimme triefte jetzt förmlich vor Verachtung, als er erwiderte: „Wenn du glaubst, du könntest mich damit bestechen, Reddish, dann – muss ich dich leider enttäuschen. Glaub mir, ich habe es nicht nötig, in den Sommerferien irgendwelche mickrigen Muggel-Süßigkeiten zu essen, wenn ich in Hogwarts das ganze Jahr über magische Süßigkeiten haben kann. Von den Sachen, die es bei uns gibt, könnt ihr noch nicht mal träumen. Zuckerfedern, Schokofrösche, Kürbispasteten-"
„Schokofrösche?" Liza glaubte, sich verhört zu haben. Wer würde denn Frösche essen?
„Ja, und man muss aufpassen, dass sie einem beim Essen nicht aus dem Mund springen", fügte Tom hinzu.
„Ihr – ihr esst lebendige Frösche?", stieß Liza hervor.
Ein Hauch von Belustigung mischte sich mit dem verächtlichen Ausdruck auf Toms Gesicht.
„Jaa", entgegnete er leise, „wir fangen Frösche, tauchen sie in Schokolade und dann essen wir sie. Mit den Knochen, weil die so schön knacken."
„Urgh", machte Liza, „das – das ist nicht wahr, oder?"
War da nicht die Spur eines Grinsens auf Toms Gesicht? Doch als er jetzt einen Schritt auf sie zu machte, war sein Gesicht vollkommen ernst.
„Wer weiß? In der magischen Welt ist alles möglich. Sie ist gefährlich, Reddish. Besonders für Muggel wie dich. Deshalb solltest du endlich aufhören, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen. Ich habe dich schon einmal gewarnt. Und jetzt nimm deine lächerlichen Schokoladenbonbons und verschwinde!"
Liza wich zurück. An der Tür hielt sie noch einmal inne.
„W-warum nennst du mich auf einmal Reddish?"
Er schaute sie mit unergründlichem Blick an.
„Soll – soll ich dich dann auch – Riddle nennen?" Sie wusste selbst nicht genau, warum sie das fragte.
Tom runzelte die Stirn.
„Nein, das ist lächerlich", brummte er, „aber da ich sowieso nicht vorhabe, mich in diesem Sommer noch einmal mit dir zu unterhalten, ist es vollkommen gleichgültig, wie wir uns anreden. Lass mich in Ruhe, Muggelmädchen, ich warne dich!"

Liza beeilte sich, aus der Tür zu kommen. Ihr Herz klopfte. Irgendwie hatte sie sich das Wiedersehen mit Tom anders vorgestellt.
Obwohl... eigentlich war er genauso gewesen, wie im letzten Jahr. Vielleicht hatte es ihr damals weniger ausgemacht. Oder es lag daran, dass sie sich das ganze Jahr über ausgemalt hatte, wie sie sich mit ihm stundenlang über Magie unterhalten würde. Nur leider war Tom niemand, mit dem man sich stundenlang unterhalten konnte.
Aber sie würde nicht aufgeben. Außerdem wollte sie doch auch immer noch das frohe Spiel mit ihm spielen!

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt