15

61 8 0
                                    

Zum zweiten Mal an diesem Tag näherte Tom Marvolo Riddle sich einem stattlichen Herrenhaus. Dieses schien ein wenig kleiner zu sein als das andere, gleichzeitig wirkte es aber auch deutlich heller und freundlicher. Leuchtende Sommerblumen säumten den Weg, der vom Gartentor zur Haustür führte.
Es kam ihm etwas seltsam vor, durch solch ein Blütenmeer zu laufen, gerade jetzt, nach dem, was er getan hatte, und in der Stimmung, in der er sich befand. Aber er hatte entschieden, dass er sie sehen wollte, und beinahe erschien es ihm passend, dass der Weg zu ihr durch ein Meer aus leuchtenden Blüten führte.
Tom schüttelte leicht den Kopf. Was für seltsame Gedanken er doch hatte!

Seitdem er vor einem Jahr Lizas zweiten Brief in seiner Hand gehalten hatte, war so viel geschehen. Sein Leben hatte sich verändert. Er hatte herausgefunden, wer er wirklich war. Es erklärte so vieles. Seine Besonderheit, seine Macht. Seine Fähigkeit, mit Schlangen zu sprechen. Seine besondere Verbundenheit zu Hogwarts.
Er war der Erbe Slytherins, eines der vier Gründer der Schule, in seinen Augen des Bedeutsamsten. Ein direkter Nachfahr über viele Generationen hinweg. Ausgerechnet er, den man in einem Waisenhaus der Muggel deponiert hatte wie ein unbedeutendes Stück Dreck. Aber man hatte ihm nicht nehmen können, was ihm zustand. Er hatte es herausgefunden.
Er hatte auch die Kammer des Schreckens gefunden, die sein Urahn vor Jahrhunderten in der Schule verborgen hatte. Schon seit seinem ersten Jahr hatte er danach gesucht, fest davon überzeugt, dass sich hinter den Erzählungen von dieser Kammer mehr verbarg als bloß ein Mythos. Aber obwohl er die Erfolglosigkeit seiner Suche so oft verflucht hatte, erschien es ihm nun passend, dass er die Kammer erst in diesem Jahr aufgespürt hatte, in dem er auch das Geheimnis seiner Abstammung gelüftet hatte. Jetzt war er in der Lage, ihre ganze Bedeutung zu erfassen.
Er hatte die Kammer geöffnet, um das Werk seines Ahnen zu vollenden. Allerdings war nicht alles so gelaufen, wie er es geplant hatte. Die Dinge waren ihm ein wenig entglitten und er wusste auch, wer die Schuld daran trug. Dumbledore, sein Lehrer für Verwandlung, der ihn damals vor fünf Jahren im Waisenhaus besucht hatte, um ihm zu eröffnen, dass er ein Zauberer war, und dem er in seinem damaligen Rausch der Begeisterung etwas zu viel von sich preisgegeben hatte. Seitdem schien Dumbledore jeden seiner Schritte mit Argusaugen zu bewachen.
Als dann auch noch ein Mädchen gestorben war und die Schulschließung drohte, hatte Tom handeln müssen – anders als geplant. Doch auch wenn die Kammer ihm nicht das gebracht hatte, was er sich erhofft hatte, so hatte er doch etwas vielleicht noch viel Wertvolleres gefunden. Den ersten Schritt zur Unsterblichkeit – er war ihn gegangen. Es war wie damals in seiner Vision, die er in Lizas Gedanken heraufbeschworen hatte. Die Schlange besiegte den Tod. Den ersten Schritt zur Unsterblichkeit war er mit Hilfe der Basiliskin gegangen, die verborgen in der Kammer lebte, einst Vertraute von Salazar Slytherin und nun bereit, keinen Geringeren als ihn, Tom Marvolo Riddle, bedingungslos als ihren Herrn und Meister anzuerkennen.
Es war alles genau wie in seiner Vision – und das bedeutete, dass sich alles erfüllen würde. Der Schritt, den er gegangen war, war nicht nur sein erster Schritte auf dem Weg zur Unsterblichkeit, sondern auch ein bedeutsamer Schritt auf seinem Weg, der mächtigste Magier aller Zeiten zu werden.

Doch vorerst hatte er sich weiter mit seiner Abstammung befassen müssen. Es war eine Ironie des Schicksals, dass der entscheidende Hinweis ausgerechnet von dem Muggelmädchen gekommen war, als sie ihm vor einem Jahr von den Riddles in Little Hangleton berichtet hatte.
Selbstverständlich war es ihm ein Leichtes gewesen, jenen Text, an den er sich zunächst nur verschwommen erinnerte, in der Bibliothek von Hogwarts wiederzufinden, sobald er endlich in die Schule zurückgekehrt war. Eine Abhandlung über im Verborgenen lebende Zaubererfamilien. Eine solche Familie lebte am Rande von Little Hangleton – die Familie Gaunt. Sie hatten sich vollständig aus der magischen Gesellschaft zurückgezogen, lebten ihr eigenes Leben, nach ihren eigenen Gesetzen. Doch einstmals waren sie eine bedeutende Familie gewesen und ihre blütenreine Abstammung reichte weit zurück. Bis zu Salazar Slytherin höchstpersönlich.
Rückblickend wunderte Tom sich, warum er der Familie nicht mehr Bedeutung beigemessen hatte, als er das erste Mal auf den Namen gestoßen war. Aber er hatte nie ernsthaft nach der Familie seiner Mutter gesucht.
Nun jedoch ergab alles einen Sinn. Little Hangleton, die Gaunts, die Riddles.
Deine Mutter hat dir diesen Namen gegeben, bevor sie starb. Tom Riddle nach deinem Vater, Marvolo nach ihrem Vater. Das war alles, was man ihm im Waisenhaus jemals über seine Herkunft gesagt hatte. Das derzeitige Oberhaupt der Gaunts hieß Marvolo. Sein Großvater. Irgendetwas musste seine reinblütige Mutter dazu bewogen haben, sich mit dem reichen Muggel Riddle einzulassen.

Tom war nur der Form halber zu Beginn der Ferien zunächst in das Waisenhaus zurückgekehrt. Falls Dumbledore ihm allen Ernstes auch in den Ferien hinterherspionierte, sollte er in seinem Verhalten nichts Ungewöhnliches bemerken. Doch schon am nächsten Morgen war er voller Ungeduld nach Little Hangleton aufgebrochen.
Als erstes hatte er sich auf die Suche nach dem Haus der Gaunts gemacht. Seine magischen Vorfahren interessierten ihn weitaus mehr als die unbedeutenden Muggel.
Mindestens dreimal war er an der verfallenen Hütte vorübergelaufen, ehe ihm klar wurde, dass ausgerechnet das der Ort war, nach dem er suchte. Der kleine Garten war verkrautet, das Haus schmutzig und heruntergekommen, aus dem Dach waren sogar schon einige Schindeln herausgebrochen. Dennoch war das Haus bewohnt.

Vorsichtig, den Zauberstab erhoben, bahnte sich Tom einen Weg durch den Garten. Neben der Haustür hing eine altmodische Lampe an einem rostigen Haken und Tom wusste selbst nicht genau, warum er sie in die Hand nahm, ehe er anklopfte. Auf sein Klopfen kam keine Antwort, aber er meinte, ein leises Zischeln von innen zu hören. Mit einem ungesagten Zauber ließ er die Tür aufschwingen. Sie knarrte, als würde sie sich nur äußerst ungern bewegen.
Das erste, was Tom wahrnahm, war der Gestank. Eine Mischung aus Schimmel und Fäule hüllte ihn ein wie eine Wolke, vor der sicherlich jeder andere zurückgewichen wäre. Nicht aber Tom Marvolo Riddle.
Langsam ließ er seine Augen durch das in der Bruchbude herrschende Dämmerlicht wandern. Auf einem kleinen Tisch in der Mitte des Raums häuften sich verkrustete Töpfe, umgeben von angeschimmelten Essensresten. Boden und Decke waren überzogen von Spinnweben und Staub.
Endlich blieben seine Augen an einem Mann hängen, der in einem zerschlissenen Sessel kauerte. Ein verfilztes Gestrüpp aus Haaren und Bart hatte sein Gesicht so sehr zugewuchert, dass Tom nicht einmal Augen erkennen konnte. Doch der Mann musste etwas sehen können, denn er hatte sich Tom zugewandt, beide Arme ausgestreckt, den Zauberstab in der einen, ein kurzes Messer in der anderen Hand.
Plötzlich sprang er auf, wobei eine Ansammlung leerer Flaschen zu seinen Füßen klirrend umstürzte, und torkelte brüllend auf Tom zu.

„Halt!*", entfuhr es Tom.
Der Mann zuckte zurück, taumelte gegen den Tisch und mehrere dreckige Töpfe krachten neben ihm zu Boden. Eine Weile verharrte er regungslos und starrte Tom einfach nur an. Tom erwiderte den Blick ohne ein einziges Blinzeln.
„Du sprichst es?", zischte der Fremde schließlich.
Erst jetzt wurde Tom bewusst, dass er unwillkürlich Parsel verwendet hatte, um dem Angriff des Mannes Einhalt zu gebieten.
„Ja, ich spreche es", erwiderte er.
Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und machte ein paar Schritte auf das Lumpengestell zu.
„Wo ist Marvolo?", fragte er leise. Die Kreatur vor ihm konnte unmöglich das Oberhaupt des Hauses Gaunt sein.
„Tot", zischelte der Mann, „schon vor Jahren gestorben, nicht?"
„Und wer bist du?", wollte Tom wissen.
„Ich bin Morfin, oder?"
Was für ein erbärmlicher Schwachkopf musste das sein, wenn er noch nicht einmal seinen eigenen Namen mit absoluter Sicherheit nennen konnte?
„Marvolos Sohn?", hakte Tom nach.
„'türlich bin ich das..."
Tom runzelte die Stirn. Diese Missgeburt sollte also... sein Onkel sein?
Morfin strich sich das Haar aus seinem schmutzigen Gesicht, wobei ein Ring mit einem schwarzen Stein an seiner rechten Hand aufblitzte, und starrte ihn weiterhin unverhohlen an.
„Ich dachte, du bist dieser Muggel", murmelte er. „Du siehst mächtig aus wie dieser Muggel."
Tom spürte, wie sich sein Herzschlag gegen seinen Willen beschleunigte.
„Welcher Muggel?"
„Dieser Muggel, in den meine Schwester vernarrt war, der da in dem großen Haus gegenüber wohnt", erwiderte Morfin und deutete mit der Klinge des Messers in eine unbestimmte Richtung.
Das war es also – der Muggel, von dem Liza geschrieben hatte. Tom Riddle. Es stimmte tatsächlich.
Unvermittelt zog Morfin die Luft ein und spuckte zwischen ihnen auf den Boden. Für einen Augenblick starrte Tom auf den gelben, schleimigen Klumpen vor seinen Füßen.
„Du siehst genauso aus wie der", fuhr Morfin fort, „Riddle."

Tom wollte es nicht hören. Er wollte kein Wort mehr darüber hören, kein einziges Wort, nicht aus dem Mund dieser abstoßenden Kreatur.
Morfin redete weiter und weiter. Ein Teil von Tom hörte nach wie vor aufmerksam zu, um sich nur ja keine Information entgehen zu lassen – ein anderer Teil aber konnte nur noch daran denken, wie er ihn stoppen könnte. Er ging weiter auf Morfin zu, während der sich immer mehr in Rage redete.
„Hat uns entehrt, diese kleine Schlampe! Und wer bist du, dass du einfach herkommst-"
Wie konnte er es wagen? Wie konnte er wagen, so mit ihm zu reden, er, der in dieser erbärmlichen Hütte hockte und nicht einmal sein eigenes Leben auf die Reihe bekam, mit ihm, dem besten Schüler, den Hogwarts jemals gesehen hatte, ihm, der auf dem Weg war, der mächtigste Magier aller Zeiten zu werden?
Tom brauchte weder seinen Zauberstab noch ein gesprochenes Wort, um Morfin auf den Boden stürzen und in einen tiefen Dämmerschlaf sinken zu lassen. Der Alkohol tat sein Übriges und Tom musste noch nicht einmal besonders vorsichtig sein, als er dem Lumpengestell den Zauberstab aus den Fingern zog. Als erstes sprach er einen Reinigungszauber, um den Stab von der klebrigen Schicht zu befreien, die den Griff umgab. Dann machte er sich auf den Weg hinauf nach Little Hangleton, Morfin zwischen all dem anderen Dreck auf dem Boden seiner Hütte zurücklassend, während in seinem Kopf ein Plan Gestalt annahm.

Das Haus der Riddles strahlte eine stolze Erhabenheit aus, prächtig und Dank der Lage auf dem Hügel noch größer wirkend als es ohnehin schon war. Tom hielt für einen Moment inne, um das Haus anzustarren, und mit jedem Atemzug fühlte er den Zorn in seinem Inneren stärker lodern.
Das sollten also die letzten lebenden Verwandten sein, die ihm geblieben waren – ein verlotterter Irrer und ein wertloser Muggel. Gleichzeitig erschien es ihm fast wie Hohn, dass ausgerechnet der Muggel in Wohlstand und Reichtum lebte, während der Magier heruntergekommen in der Gosse hauste.
Er ging auf das Haus zu und verschaffte sich Einlass. Tom war noch nie in einem solchen Herrenhaus gewesen, dennoch trugen seine Füße ihn wie von selbst durch die hohen, peinlich sauberen Räume bis in den Salon, wo drei Personen um eine gedeckte Kaffeetafel saßen und überrascht aufsprangen, als er plötzlich vor ihnen stand.

Für einen winzigen Augenblick stand Tom genauso erstarrt da wie die drei Muggel. Er hatte nicht damit gerechnet, hier außer seinem Vater noch andere Personen anzutreffen. Die beiden älteren Leute waren seine Großeltern.
Die Frau schien die Situation als erste zu erfassen. Ihr Blick wanderte von ihm zu ihrem Sohn und zurück, dann schlich sich ein Ausdruck des Erkennens auf ihr Gesicht, ihre Augen leuchteten auf und ihre Mundwinkel hoben sich eine Winzigkeit. Doch kaum bewegte sie sich einen Schritt auf ihn zu, als auch Tom aus seiner Starre erwachte.
„Du bist-", brachte sie noch hervor, da hatte er schon die Spitze von Morfins Zauberstab auf sie gerichtet.
„Avada Kedavra!"
Der grüne Lichtblitz traf sie und sie stürzte mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, den Blick starr an die Decke gerichtet. Der alte Mann an ihrer Seite, der von all dem in der kurzen Zeit, die ihm blieb, nicht das Geringste zu verstehen schien, folgte ihr kaum eine Sekunde später.
Schweigend standen Tom und der verbleibende Muggel einander gegenüber. Der Muggel starrte ihn an, eine Mischung aus Erkennen und Entsetzen in den Augen, ganz offensichtlich nicht in der Lage, sich zu regen, geschweige denn irgendetwas zu sagen. Tom verstand, was Liza und Morfin gemeint hatten. Dieser Mann sah aus wie eine ältere Version seiner selbst.
Doch ganz gleich, was er war, er mochte sein Erzeuger sein – aber er war niemals sein Vater. Tom würde Geschmeiß wie ihn niemals als seinen Vater anerkennen. Er verdankte ihm noch nicht einmal sein Leben. Dieser Mann hätte ihn sterben lassen, wie er auch seine Mutter hatte verrecken lassen.
Tom blickte ihm fest in die dunklen Augen, während er den Zauberstab direkt auf sein Herz richtete.
„Avada Kedavra!"
Er wandte sich um und verließt den Salon, noch ehe die Leiche seines Vaters auf dem Boden aufschlug.

Auf demselben Weg, auf dem er heraufgekommen war, kehrte Tom zu Morfin Gaunts Hütte zurück. Er legte den geborgten Zauberstab neben dem noch immer bewusstlosen Lumpengestell ab. In die Gedanken des Irren einzudringen war ihm ein Leichtes. Morfins Gedankenstrom war wirr und kaum zusammenhängend, ihn zu manipulieren war ein Kinderspiel. Toms intensive Übungen in Liza Reddishs Bewusstsein zahlten sich nun aus.
Schon nach wenigen Sekunden war Morfin fest davon überzeugt, die drei Riddles getötet zu haben, er kannte jedes Detail des Mordes, aber an einen Besucher in seiner Hütte konnte er sich nicht mehr erinnern. Tom sah es als Ironie des Schicksals, dass er Morfin mit dieser Erinnerung sogar einen lange gehegten Wunsch zu erfüllen schien. Er würde die Morde voller Stolz gestehen und so würde der elende Schwachkopf am Ende doch noch zu etwas nütze sein. Selbstverständlich würde er für seine Tat nach Askaban kommen und so hätte Tom auch seinen letzten lebenden Verwandten erfolgreich aus dem Weg geräumt.
Ihm wurde jetzt noch ganz schlecht, wenn er an die Gaunts dachte. Sie sollten die Nachfahren Slytherins sein und seine Ahnen. Doch das, was er gesehen hatte, war weder würdig das eine noch das andere zu sein. Nur er war der wahre Erbe Slytherins. Er ganz allein.

Tom schloss kurz die Augen und sammelte seine Sinne, ehe er an die Tür klopfte, hinter der Liza Reddish jetzt wohnte. Er hatte entschieden, dass er sie sehen wollte, weil sie die einzige war, die etwas über seine Verbindung zu den Riddles wusste. Damit besaß sie ein Wissen, das außer ihm selbst niemand besitzen durfte. Er musste sich darum kümmern und dafür brauchte er einen klaren Kopf.

Es dauert nicht lange, bis die Tür auf sein Klopfen hin geöffnet wurde – und Liza selbst vor ihm stand.
„Tom!", stieß sie hervor und es war, als würde genau in diesem Augenblick irgendwo in ihrem Innern ein Licht angezündet werden.
Er hatte beinahe vergessen, wie intensiv ihr Strahlen war, das nun ihr ganzes Gesicht erhellte. Ihre Augen leuchteten und ihr Lachen war so herzlich, dass er gleichzeitig den Wunsch verspürte, sich darin zu verlieren und davor zurückzuweichen. Sie freute sich wirklich, ihn zu sehen. Sie freute sich so sehr und ihre Freude traf ihn wie ein schmerzhafter Stich, der ihn für einen Augenblick vollkommen vergessen ließ, weshalb er hergekommen war.
„Hallo Liza", murmelte er und der Klang seiner Stimme brachte ihn wieder zur Besinnung.
Er war Tom Marvolo Riddle, nicht irgendein Junge, der beim Anblick irgendeines Mädchens den Verstand verlor. Schon gar nicht beim Anblick eines Muggelmädchens.
Trotzdem nahm er sich einen kurzen Moment Zeit, um sie einfach nur anzuschauen. Sie war größer geworden, aber immer noch etwas kleiner als er. Die honigblonden Haare hatte sie zu einem strengen Knoten nach hinten gesteckt, was ihr Gesicht schmäler erscheinen ließ. Alles an ihr wirkte erwachsener und sie... war immer noch schön.
Tom schluckte. Nein, solche Gedanken waren vollkommener Unsinn.

„Was für eine wunderbare Überraschung, dass du hier bis, Tom!", sagte Liza. „Möchtest du nicht hereinkommen?"
„Sind deine – bist du-", setzte er an und sofort durchflutete ihn Zorn darüber, dass es ihm nicht gelang, die richtigen Worte zu finden. Was war nur mit ihm los?
Doch Liza lachte und wie so oft schien sie genau zu wissen, was er wollte.
„Du meinst du Allencourts? Richard und Felicity sind nicht hier. Sie sind in London und kommen erst am Abend zurück."
„Und sonst ist auch niemand hier?", fragte Tom, während er Liza ins Haus folgte.
„Wer sollte sonst hier sein?"
„Ein Dienstmädchen?"
„Oh, Tom!" Liza wandte sich mit einer so heftigen Bewegung um, dass er unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Alles Strahlen war aus ihrem Gesicht verschwunden.
„Ist es nicht offensichtlich? Was glaubst du, warum sie sich ein vierzehnjähriges Mädchen aus dem Waisenhaus geholt haben? Wenn sie eine Tochter gewollt hätten, hätten sie ein jüngeres Kind genommen. Sie haben mich an Kindes statt angenommen, aber meine Aufgabe ist der Haushalt!"
Tom konnte sie nur entgeistert anstarren. Seine Gedanken streiften ihre. Sie tat so, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, aber sie hatte selbst lange gebraucht, um es zu verstehen. Die Allencouts benutzten sie als preiswertes Dienstmädchen, sie hatten von Anfang an nichts anderes vorgehabt. Tom wartete vergeblich auf ein Ich bin froh darüber, weil – da war kein frohes Spiel, das ihr den Gedanken daran erleichterte. Sie hatte sich damit abgefunden, weil sie sich damit abfinden musste.
Die Muggel ließen sie hier schuften wie eine verdammte Hauselfe! Tom wusste selbst nicht, warum der Gedanke ihn so aufregte. Eigentlich war es doch vollkommen gleichgültig. Aber sie gehörte ihm. Er durfte sie für seine Zwecke nutzen und sonst niemand.

Liza führte ihn in den Salon.
„Möchtest du Tee?"
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, danke. Ich möchte mich mit dir unterhalten. Setz dich!"
Er wies auf das Sofa. Liza blickte ihn neugierig an, dann ließ sie sich so vorsichtig auf der Kante des Sofas nieder als hätte sie Angst, es zu beschmutzen.
„Setz dich richtig hin!"
Sie zögerte kurz, doch dann kam sie seiner Aufforderung nach. Tom trat dicht vor sie und drang in ihre Gedanken ein.
Er hatte vorgehabt, ihre Erinnerungen an ihn vollständig auszulöschen, doch er brachte es nicht über sich. Er konnte doch unmöglich sich selbst auslöschen. All die Bewunderung, die sie für ihn empfunden hatte und noch immer empfand, konnte er doch unmöglich für immer vernichten! Nein, ihre Gedanken an ihn waren viel zu wertvoll.
Also entwickelte er kurzerhand einen neuen Plan. Er würde ihre Gedanken nur verändern. Niemand würde mehr in der Lage sein, darin noch eine Verbindung zwischen ihm und den Riddles in Little Hangleton zu entdecken. Aber tief verborgen in ihrer Erinnerung würde die Bewunderung für ihn erhalten bleiben.

Als Tom sich aus Lizas Gedanken zurückzog, war sie eingeschlafen. Vorsichtig hob er das Muggelmädchen an und ließ sie ganz auf das Sofa gleiten. Es wäre weniger auffällig, wenn sie so gefunden wurde.
Für einen Augenblick verharrte er regungslos und schaute hinab auf das schlafende Mädchen. Sie sah so entspannt und friedlich aus. Unwillkürlich griffen seine Finger nach einer Locke, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte und über ihr Gesicht gefallen war. Er spürte ihre zarte Wärme und mit einem Mal überkam ihn das brennende Verlangen, seine Finger auf die weiche Haut ihrer Wange zu legen.
Wie vom Blitz getroffen zog er die Hand zurück und erhob sich. Es war Zeit, Little Hangleton zu verlassen.

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt