4

105 8 0
                                    

Liza war glücklich. Sie hatte die Augen geschlossen und genoss das frische, kühle Wasser, das sanft über ihren Körper floss. Zum ersten Mal, seitdem sie hier im Waisenhaus leben musste, fühlte sie sich wieder einmal richtig glücklich.
Sie hatte es geschafft! Es war ihr gelungen, Pollyannas Spiel richtig zu spielen. Genau so hätte Pollyanna es auch gemacht. Und es fühlte sich so gut an! Sie hatte etwas gefunden, worüber sie froh sein konnte – und diese Entdeckung machte sie tatsächlich froh.
Es fühlte sich an, als wäre ein Bann gebrochen. Sie hatte schon gedacht, dass sie es niemals schaffen würde. Dass sie es einfach nicht konnte, nachdem sie alles verloren hatte und an diesem Ort leben musste.
Ihr war klar gewesen, solange sie es selbst nicht schaffte, hier für sich etwas Frohes zu finden, würde es ihr auch niemals gelingen, das frohe Spiel mit Tom zu spielen. Doch das hatte sie sich vorgenommen. Und nun war es endlich soweit! Es war sogar ganz leicht gewesen. Ganz plötzlich war der richtige Gedanke in ihrem Kopf aufgetaucht, fast wie von selbst.

Es tat gut, wieder eine Geschichte aus einem Buch lebendig werden zu lassen. Fast wie früher, als sie mit ihrem Bruder nach dem geheimen Garten gesucht hatte.
Ihr Vater hatte recht, die Bücher würden ihr helfen – doch mit Tom würde es schwieriger werden. Er war so verschlossen. Da war diese Dunkelheit, die ihn umgab. Manchmal wirkte es fast, als wollte er gar nichts Frohes an sich heranlassen.
Doch je mehr sie diesen Eindruck hatte, desto entschlossener wollte sie es versuchen. Ihr eigener Erfolg von heute bestärkte sie darin. Je schwerer, desto besser!

Eilig schlüpfte sie aus der Dusche und wickelte sich in ihr graues Handtuch. Sie durften nie zu lange duschen, um Wasser zu sparen, außerdem wollte sie vor dem Essen noch schnell in ihr Zimmer, um sich ein frisches Kleid anzuziehen.
Doch kaum hatte sie ihr Zimmer betreten, ließ ein seltsames Gefühl sie innehalten. Irgendetwas war anders als sonst.
Aufmerksam blickte Liza sich um. Auf den ersten Blick sah alles ganz normal aus. Alle Dinge standen oder lagen an ihrem Platz. Nichts war verschwunden, nichts hinzugekommen. Und doch hatte sie dieses seltsame Gefühl – jemand war in ihrem Zimmer gewesen.
Sie hätte selbst nicht erklären können, woher sie das so sicher wusste. Es war fast, als würde sie die fremde Person in diesem Raum spüren. Aber man konnte niemanden spüren, der gar nicht mehr da war! Oder etwa doch?
Seltsamerweise glaubte sie sogar ganz genau zu wissen, wer hier gewesen war. Tom Riddle. Was hatte er in ihrem Zimmer gewollt? Hatte er nach ihr gesucht? Interessierte er sich am Ende doch mehr für sie, als er zugeben wollte?

***

Beim Essen saßen sie einander wieder gegenüber, doch Liza schwieg die ganze Zeit über. Ein paar Mal war sie kurz davor, Tom zu fragen, was er in ihrem Zimmer gewollt hatte, aber dann kam sie sich albern vor.
Wenn sie sich nun doch getäuscht hatte? Wie würde er reagieren, wenn sie ihm vorwarf, in ihrem Zimmer gewesen zu sein, obwohl es gar nicht stimmte? Er würde nur noch misstrauischer und verschlossener werden.

Tom wiederum blickte mehrmals von seinem Essen auf und schaute sie an. Er wirkte dabei beinahe erwartungsvoll, so als würde er geradezu darauf warten, dass sie anfing zu sprechen. Aber sicher bildete sie sich auch das nur ein. Er wollte ja nicht mir ihr reden.
Als das Signal zum Aufstehen nach dieser Mahlzeit ertönte, war Liza die erste, die aufsprang und nahezu fluchtartig den Speisesaal verließ.

***

Sie beobachtete Tom vom Fenster aus. Wenn sie frei hatten und nach draußen gehen durften, saß er oft unter der großen Blutbuche am Rande des Hofes und las. Er war immer allein, die anderen Kinder machten einen großen Bogen um den Baum, unter dem er saß.
Liza fand, dass er selbst dann, wenn er einfach nur dasaß und las, unglaublich geheimnisvoll wirkte. Ein dunkler Schatten, unergründlich und mysteriös, wie das Rätsel, das er im Namen trug.
Liza musste über ihre eigenen Gedanken grinsen. Er hätte wirklich zu gut in die Bücher hineingepasst, die sie so gerne las. Aber jemanden wie ihn in echt und lebendig zu treffen, war natürlich tausendmal spannender.

Einmal mehr nahm sie sich vor, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Im Moment interessierte sie am meisten, was für ein Buch er las. Denn auch mit diesem Buch musste es irgendeine besondere Bewandtnis haben.
Für einen Augenblick hatte sie den Eindruck gehabt, dass es ein riesengroßer, dicker und schwerer Wälzer war, den Tom gegen seine Knie lehnen musste, um darin blättern zu können, mit einem kunstvollen Einband, sogar mit Beschlägen an den Ecken, beinahe ehrwürdig, als würde es aus einer jahrhundertealten Bibliothek stammen. Im nächsten Augenblick aber war es ihr winzig klein erschienen, kaum größer als ein Oktavheft in seiner Hand.
Sie presste ihre Nase gegen die Scheibe. Wie konnte das sein? Je mehr sie sich bemühte, das Buch mit ihrem Blick zu fixieren, desto mehr schien es vor ihren Augen zu verschwimmen. Es flirrte förmlich inmitten der tanzenden Sonnenflecken, die durch das rote Laub der alten Buche fielen.
Je mehr sie sich anstrengte, desto weniger konnte sie erkennen, zwischendurch schien das Buch sogar immer wieder vollkommen verschwunden zu sein. Tom jedoch schien davon überhaupt nichts zu bemerken. Er saß einfach nur da, vollkommen vertieft, und las.

Doch Liza war überzeugt, dass mehr dahintersteckte als nur ein Streich, den das Licht ihr spielte, und sie hätte zu gern gewusst, um was für ein geheimnisvolles Buch es sich handelte. Nur leider wollte ihr einfach kein guter Vorwand einfallen, um zu Tom hinunter zu gehen und sich das Buch, das er in Händen hielt, aus der Nähe anzusehen.

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt