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„Aber Mulciber hat den Quaffel versenkt wie einen Stein im Schwarzen See!", verkündete Nott zum wiederholten Mal. Avery, der ihm gegenüber saß, johlte zustimmend. „Man hat es sogar platschen gehört", prustete er zwischen zwei Bissen Toast, „nur dass das kein Wasser war, sondern Abbot, der auf den Boden geklatscht ist!"
Beide brachen in schallendes Gelächter aus. Tom war kurz davor, sich einen Schallschutzzauber um den Kopf zu legen. Ein Tag konnte kaum schlimmer beginnen als mit einem Gespräch über Quidditch beim Frühstück. Angewidert biss er in seinen Toast.
„Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was dir entgangen ist, Tom!", wagte Avery genau in diesem Augenblick seine Worte an ihn zu richten.
Tom funkelte ihn wütend an. „Wie oft denn noch?", zischte er, nachdem er seinen Mund leergekaut hatte. „Es interessiert mich nicht! Dieses Spiel ist nichts weiter als eine kindische Zeitverschwendung. Meine Zeit ist in der Bibliothek wesentlich besser investiert."
Genaugenommen kam Quidditch ihm dabei sogar gelegen. Wenn sämtliche Mitschüler den gesamten Nachmittag im Stadion verbrachten, hatte er in der Bibliothek endlich einmal seine Ruhe und konnte ungestört lesen. Er hasste es, wenn andere um ihn herumwuselten – es ging niemanden etwas an, welche Bücher er las. In dieser Hinsicht konnte er sogar froh sein, dass es Quidditch gab.
Froh? Unwillig schüttelte er den Kopf. Woher kam denn jetzt dieser Gedanke?

„Aber es kann dir doch nicht vollkommen gleichgültig sein, wenn Slytherin die anderen plattmacht!", beharrte Avery. „Es ist unser Haus, Tom!"
Der Junge kapierte es einfach nicht.
Das in diesem Moment einsetzende Flügelrauschen, das die Ankunft der Post verkündete, erlöste Tom davon, eine Antwort geben zu müssen. Dennoch beachtete er die Eulen nicht weiter, die jetzt über ihren Köpfen heranbrausten, sondern wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Für gewöhnlich erhielt er keine Post, schließlich hatte er außerhalb von Hogwarts weder Verwandte noch andere Angehörige. Er blickte nicht einmal auf, als der große Uhu mit Averys unvermeidlicher Quidditch-Zeitschrift vor ihnen auf dem Tisch landete.
„Wahnsinn, mein Onkel reist nach Nordamerika!", rief Nott einen Augenblick später, nachdem er einen dicken Umschlag aufgerissen hatte, den ein zerzauster Waldkauz auf seinen Schoß hatte fallen lassen. Tom wollte gerade nach einer neuen Scheibe Toast greifen, als ein unförmiges Etwas direkt neben seinem Teller auf den Tisch klatschte.
„Was ist das?", entfuhr es Nott.
Das Etwas war gefiedert, besaß zwei große Flügel, die es abspreizte als hätte es nicht einmal mehr die Kraft, sie ordentlich anzulegen – und es trug einen Brief bei sich. Wenn das Tier nicht so abgekämpft gewesen wäre, hätte man die elegante Gestalt einer Schleiereule erkennen können.

„Der ist für dich, Tom!", bemerkte Nott, der sich vorbeugte und unverhohlen auf den Brief starrte.
„Tom Riddle, Zauberschule Hogwarts", las er vor. „Was ist das denn für eine seltsame Formulierung?"
„Bleib mit deinen Augen bei deinen Sachen!", zischte Tom und nahm den Brief an sich.
Er drehte ihn hin und her, konnte aber keinen Absender finden. Auch die Handschrift kam ihm nicht bekannt vor. Nachdenklich starrte er auf die Schleiereule, die noch immer völlig ermattet neben seinem Teller hockte. Seltsamerweise meinte er, sie schon einmal gesehen zu haben, zu seinem Ärger konnte er sich aber nicht mehr entsinnen, wo.
Den Brief mit dem Ärmel seines Umhangs vor den Augen seiner Mitschüler verbergend, riss er den Umschlag auf. Ein eng beschriebenes Blatt fiel in seine Hände.
Lieber Tom
Er spürte, wie seine Stirn sich kräuselte. Wer schrieb ihm mit einer so vertraulichen Anrede? Schnell drehte er das Blatt um und ließ seinen Blick zum Ende des Schreibens wandern.
Liebe Grüße, Liza
Tom erstarrte. Liza. Es gab nur eine Liza, die er kannte. Aber warum sollte sie ihm schreiben? Was wollte sie von ihm, dass sie ihn hier in Hogwarts störte, indem sie ihm einen Brief schickte? Und überhaupt – wie um alles in der Welt hatte das Muggelmädchen es geschafft, ihm diesen Brief per Eule nach Hogwarts zu schicken?
Natürlich gab es nur einen Weg, das herauszufinden. Mit einer ungeduldigen Bewegung drehte er den Brief wieder auf die Vorderseite.

Lieber Tom, begann er zu lesen, ich hoffe so sehr, dass dieser Brief dich erreicht! Ich weiß ja nicht einmal, wo deine Schule ist, und kenne die richtige Adresse nicht. Aber ich muss dir unbedingt erzählen, was geschehen ist! Ich will, dass du es weißt, bevor du im nächsten Sommer hierher zurückkommst. Und ich will, dass du es von mir erfährst, deswegen ist dies hier der einzige Weg. Zum Glück habe ich dich immer wieder beobachtet, seitdem ich weiß, dass du ein Zauberer bist. Ich habe gesehen, dass deine Briefe dir von einer Eule gebracht werden – das passt wirklich gut zu einem Zauberer finde ich! Also habe ich mir überlegt, es auch auf diese Weise zu versuchen. Bestimmt kennst du die alte Schleiereule, die oben auf dem Dachboden des Waisenhauses lebt. Ich habe sie gefangen und werde ihr diesen Brief mitgeben. Ich habe keine Ahnung, ob sie es schafft, ob sie weiß, was sie tun soll und ob sie dich findet. Aber wenn sie den Brief annimmt, werde ich das schon einmal als gutes Zeichen ansehen und ich werde nicht aufhören zu hoffen, dass sie dich erreicht!

Tom unterbrach die Lektüre und richtete seinen Blick auf die Eule, die noch immer keuchend und mit abgespreizten Flügeln vor ihm saß. Sie bot ein Bild des Jammers, aber sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie war den weiten Weg von London nach Hogwarts geflogen und hatte ihn gefunden. Eine einfache Eule, geschickt von einem Muggel.
Schnaubend schüttelte er den Kopf. Dass Liza ihn beobachtet hatte, wunderte ihn kaum noch. Das verfluchte Muggelmädchen hatte von Anfang an mehr gesehen als sie sehen sollte. Allerdings wusste er noch immer nicht, was sie nun eigentlich wollte. Was sollten ihre geheimnisvollen Andeutungen ihm sagen?
Er senkte seinen Blick wieder auf den Brief, als Nott, der seinen eigenen Brief inzwischen wieder zurück in den Umschlag gestopft hatte, ihn erneut von der Seite ansprach: „Was ist das für ein Brief, Tom?"
Tom fuhr zu ihm herum. „Habe ich dir gesagt, dass dich das zu interessieren hat?", fauchte er so heftig, dass Nott zurückzuckte.
Wütend faltete er den Brief zusammen und ließ ihn in einer der Taschen seines Umhangs verschwinden. Er war sich ziemlich sicher, dass Nott nichts gesehen hatte, aber er konnte nicht riskieren, dass die anderen entdeckten, woher der Brief kam. Dass er Briefe aus dem Waisenhaus bekam. Einen Brief, um genau zu sein, aber selbst das war schon einer zu viel, so wie alles, was aus der Muggelwelt stammte.

Fast im selben Moment, in dem der Brief in seinem Umhang verschwand, sackte die Schleiereule endgültig in sich zusammen. Ihr Kopf landete auf Toms Teller.
„Was hat sie?", fragte Avery, der endlich wieder hinter seiner Quidditch-Zeitschrift aufgetaucht war.
Tom starrte angewidert auf das Tier. Die Eule atmete noch, aber ihr Körper bewegte sich stoßweise, so als würde ihr sogar das Atmen schwerfallen.
„Bring sie zu Mr Ogg", sagte Tom in seinem besten Befehlston, „er soll versuchen, sie wieder aufzupäppeln."
„Ja!", entgegnete Avery und sprang sofort auf. Er schnappte sich die Eule, hüllte sie in die Ärmel seines Umhangs und eilte davon. Der Toast, den er sich gerade genommen hatte, blieb unberührt auf seinem Teller zurück.
Tom unterdrückte ein Kopfschütteln. Sie waren wie lächerliche dressierte Hunde. Wenn man ihnen einen Befehl gab, sprangen sie. Natürlich war das praktisch für ihn, aber manchmal fragte er sich, wie man sich so erniedrigen konnte. Zum Glück war er anders. Er war derjenige, der die Befehle gab.

„Komm", sagte er zu Nott und erhob sich, „es wird Zeit, dass wir in den Unterricht gehen."
Auch Nott sprang sofort auf, um ihm zu folgen, obwohl auch er seine Mahlzeit ganz offensichtlich noch nicht beendet hatte. Tom grinste in sich hinein, doch seine Miene bleib ausdruckslos.
„Hast du nicht etwas vergessen?", fragte er leise.
Nott machte ein ratloses Gesicht. Es kostete Tom nur einen winzigen Schlenker seines Zauberstabs unter dem Umhang und Notts frisch mit Honig bestrichener Toast flog hinter ihm her.
„Wolltest du das einfach so liegenlassen?", murmelte er.
„Oh – das – ich – äh – also ich – dachte, wir wollten los!", stammelte Nott und versuchte, nach dem Toast zu greifen.
Eine Weile beobachtete Tom seine vergeblichen Versuche, dann sorgte er dafür, dass Nott das Brot endlich zufassen bekam.
„Iss es auf!", brummte er und Nott gehorchte.

Sie waren die ersten, die im Klassenraum für Zaubertränke eintrafen. Tom setzte sich auf seinen üblichen Platz in der ersten Reihe, Nott im Schlepptau. Kurz darauf kam Slughorn in den Raum gewuselt.
„Oh, schon so früh hier, einen schönen guten Morgen, Tom!", grüßte er mit einem breiten Strahlen, Nott vollkommen übersehend.
Tom grüßte mit vollendeter Höflichkeit zurück. Slughorn hatte ihn schon im ersten Schuljahr stillschweigend zu seinem uneingeschränkten Lieblingsschüler erkoren und auch wenn das so manche Bequemlichkeit mit sich brachte und er es sicherlich irgendwann noch einmal zu seinem Vorteil würde nutzen können, kam es Tom manchmal reichlich seltsam vor, wie sein Lehrer nur Augen für ihn zu haben schien. Generell fand er seinen Hauslehrer etwas eigenartig. Gerade jetzt trug er pfeifend einen riesigen Kessel herein und stellte ihn auf das Pult, wobei er geheimnisvoll blickte wie ein Weihnachtsmann.
Slughorn hatte manchmal solche Anwandlungen und meistens bedeutete es, dass Tom eine unerträglich skurrile Stunde über sich ergehen lassen musste, auch wenn er seinen Lehrer im Allgemeinen für einen durchaus fähigen Tränkemeister hielt. Doch er ließ sich nichts anmerken. Slughorn hatte keine Ahnung, was er über ihn dachte, und das sollte auch so bleiben.

Endlich hatte sich der Klassenraum gefüllt und der Unterricht fing an.
„Für die heutige Stunde", begann Slughorn strahlend, „habe ich Ihnen etwas ganz Besonderes mitgebracht."
Schwungvoll hob er den Deckel von seinem Kessel, zauberte aus dem Nichts eine silberne Kelle hervor und schöpfte eine große Portion einer klaren, nahezu farblosen Flüssigkeit aus dem Kessel in einen bereitstehenden Kolben. Den Kolben hoch erhoben blickte er sich in der Klasse um, als würde nun die Bescherung beginnen.
„Wer kann mir sagen, was das hier ist?"
Tom runzelte kaum merklich die Stirn. Er wusste es sofort, aber er hatte keine Lust, es zu sagen, weshalb er mit einer Meldung zögerte.
Slughorn, dessen Blick beim Stellen der Frage wie so oft auf ihm geruht hatte, ließ seine Augen suchend durch die Klasse gleiten.
„Einfaches Wasser, Sir?", mutmaßte einer der Gryffindors.
Tom widerstand dem Drang, seinen Kopf auf die Tischplatte knallen zu lassen, und rang sich nun doch zu einer Meldung durch. Es war ihm immer wieder ein Rätsel, wie manche seiner Mitschüler so wenig Gespür für Magie haben konnten, dass sie noch nicht einmal in der Lage waren, den zarten Perlmuttschimmer dieses Tranks und den spiralförmig von ihm aufsteigenden Dampf wahrzunehmen. Allein schon die Vorstellung, Slughorn würde ihnen einen Kessel voller Wasser präsentieren, war einfach nur lächerlich.
„Nun, Tom?"
„Was wir hier vor uns sehen, Sir", erklärte er, „ist Amortentia. Er gilt als der mächtigste und wirkungsvollste Liebestrank überhaupt. Bereits ein Schluck bewirkt, dass derjenige, der ihn getrunken hat, von einem unstillbaren, sehnenden Verlangen nach der Person erfüllt wird, die ihm den Trank verabreicht hat. Aber Amortentia kann auch durch seinen Duft betören. Es heißt, dass er für jede Person genau nach dem riecht, was man am meisten... liebt."
Slughorn strahlte. „Sehr gut, Tom! Eine ganz hervorragende Erklärung. Nehmen Sie zehn Punkte für Slytherin!"
Tom empfing das Lob mit unbewegter Miene. Er wusste alles über diesen Trank, weil er alles über alle Dinge wusste, von denen er einmal gelesen hatte, doch er bezweifelte die vielgepriesene Wirksamkeit des Trankes. Er löste nicht mehr als ein starkes Verlangen aus und eine solche Wirkung erschien Tom äußerst bedeutungslos, ja unsinnig. Warum verschwendete Slughorn ihre Zeit, indem er einen solchen Trank mit in die Stunde brachte? Es gab weitaus Interessanteres...

„Der Geruch ist eine der Besonderheiten dieses Trankes", fuhr Slughorn fort, „er riecht für jeden nach dem, was man am meisten liebt, wie Tom so treffend formuliert hat. Das heißt, er passt sich dem Sehnen des Empfängers an, man spricht bei diesem Phänomen von Rezipientenspezifität. Ich werde Ihnen heute die Gelegenheit geben, diese Wirkung selbst zu erproben. Ich werde mit einer Probe des Trankes herumgehen und bitte Sie, daran zu riechen und mir zu sagen, welchen Duft Sie wahrnehmen. Sie werden feststellen, dass der Trank für keine zwei Personen gleich riecht."
Noch immer grinsend wuselte Slughorn mit dem Kolben in der Hand hinter dem Pult hervor.
„Heute werde ich einmal von hinten beginnen!", verkündete er und eilte den Gang zwischen den Tischen entlang.
„Ist das nicht etwas sehr privat?", hörte Tom ein Mädchen aus Gryffindor murmeln, während Slughorn sich an den ersten Mitschüler aus ihrem Haus wandte. Er war selten einer Meinung mit den Gryffindors, aber insgeheim musste er ihr beipflichten. Mit gerunzelter Stirn wandte er sich um und beobachtete, wie einer nach dem anderen an dem Kolben roch und Slughorn dann mit verklärter Miene seine Empfindungen preisgab. Niemand schien auch nur im Entferntesten daran zu denken, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen. Als hätten sie reines Veritaserum vor sich. Es war einfach lächerlich.
Tom würde nicht so dämlich sein. Er erwartete ohnehin nicht, überhaupt etwas zu riechen, aber er wusste schon genau, was er sagen würde.

Endlich hatte Slughorn sich bis zu seiner Reihe vorgearbeitet.
„Rosen und Lilien", hauchte Nott neben ihm verträumt, den Kopf tief über den Kolben gebeugt. Tom unterdrückte ein Augenrollen.
Dann war er dran, als hätte Slughorn sich seinen Lieblingsschüler bis zum Schluss aufgespart. Der Tränkemeister streckte ihm den Kolben entgegen, Tom atmete tief ein – und wusste schon im selben Augenblick, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Ein Duft stieg in ihm auf, so intensiv und drängend, als würde ein ganzes Meer aus Eindrücken und Empfindungen in ihm explodieren. Das Gefühl ergriff seinen ganzen Körper, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er verspürte eine süße Wärme. Der Duft von Gras erfüllte ihn. Frisches Gras im Sonnenschein. Gleichzeitig erschien ein Bild vor seinem inneren Auge. Die Wiese am Schwarzen See. Hogwarts. Zu Hause.
Doch da war noch etwas. Ein seltsames Gefühl der Sehnsucht. Er hatte diesen Duft schon einmal gerochen, vertraut und zugleich rätselhaft.
Unwillkürlich atmete er noch einmal ein. Der Duft intensivierte sich – Gras und Sommerluft und glänzender Honig. Das leise Rascheln des Winds über ihm, Licht, das durch Blätter fiel, eine warme Gestalt, die sich an ihn lehnte. Honigduft, der aus sanft gelockten Haaren zu ihm aufstieg, ein Gesicht, das sich ihm zuwandte, strahlend blaue Augen, die ihn anblickten, Lizas unvergleichliches Lächeln-

Tom zuckte zurück und riss die Augen auf. Nein! Nein, das durfte nicht sein! Das war unmöglich! Amortentia konnte für ihn unmöglich den Duft von Liza Reddish haben. Sie war ein Muggelmädchen und er-
Wenn er überhaupt etwas für sie empfand, dann war es nichts weiter als Verachtung und Abscheu. Wie aber kam es, dass er ausgerechnet jetzt an sie denken musste?
Natürlich. Er hatte noch immer ihren Brief in der Tasche. Sie hatte ihm geschrieben, sich seinen Gedanken aufgedrängt. Es war ihre Schuld. Wieder einmal. Dabei wusste er noch nicht einmal, was sie wollte, warum sie es für nötig gehalten hatte, ihm ausgerechnet einen Brief nach Hogwarts zu schicken. Weil er keine Gelegenheit gehabt hatte, den Brief zu lesen. Da war es ja kein Wunder, dass seine Gedanken sich noch immer damit beschäftigten. Nott und Avery – sie waren schuld, sie hatten ihn vom Lesen abgehalten. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er würde sie seinen Zorn spüren lassen! Er würde-

„Tom!" Die Stimme Slughorns, der noch immer vor ihm stand und ihn erwartungsvoll anschaute, riss ihn aus seinen Gedanken.
„Nun? Wonach riecht dieser wunderbare Trank für Sie?"
Tom schluckte.
„P-pergament", stieß er dann wie geplant hervor und ärgerte sich über das Zittern in seiner Stimme, „alte Bücher u-und Tinte."
„Sehr schön!", entgegnete Slughorn und nickte zufrieden, während er zu seinem Pult zurückkehrte. Wenn er überhaupt etwas mitbekommen hatte, ließ er es sich nicht anmerken.
Toms Gedanken jedoch konnten nicht aufhören, um diese seltsame Empfindung zu kreisen. Nur wie aus weiter Ferne hörte er, wie Slughorn weitersprach. Wortfetzen wie „Ihre Erfahrungen aufschreiben" und „selber brauen" erreichten ihn, ohne dass sie eine Bedeutung hatten.
Entgegen seiner Gewohnheit konnte er das Ende der Stunde kaum erwarten. Er musste endlich diesen verdammten Brief lesen!

„Ich habe mein Buch für Kräuterkunde vergessen", log er, als sie Slughorns Klassenraum verlassen hatten und sich auf den Weg zu den Gewächshäusern machten.
„Ich kann es für dich holen", bot Avery sofort an.
„Denkst du, ich schaffe das nicht selbst?", fuhr Tom ihn an und stürmte davon, ohne die verstörten Gesichter seiner beiden Begleiter auch nur eines Blickes zu würdigen.
Er erreichte den Gemeinschaftsraum der Slytherins und eilte sofort weiter in den Schlafsaal. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugeschlagen, holte er den Brief aus seinem Umhang. Endlich war er ungestört. Seine Augen übersprangen die Einleitung, die er schon kannte, und er fuhr fort zu lesen:

Tom, du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist! Ich selbst habe nicht mehr damit gerechnet, dass es jemals passieren würde. Immerhin bin ich ja schon vierzehn Jahre alt. Aber hier waren tatsächlich Leute, die sich dafür interessiert haben, ein Mädchen zu adoptieren. Sie haben sich vor allem für die etwas älteren Mädchen interessiert – und sie haben mich ausgewählt! Sie haben selbst keine Kinder und sie möchten, dass ich bei ihnen lebe, in ihrem Haus. Schon in der nächsten Woche werde ich zu ihnen ziehen. Ich kann es noch immer nicht richtig glauben! Ich werde in einem großen Haus wohnen, mit zwei Stockwerken und Garten!
Sie werden niemals im Leben meine Familie ersetzen, aber ich bin so froh, dass ich das erleben darf. Ich glaube, es wird ein riesiges Abenteuer! Das Waisenhaus werde ich kein bisschen vermissen, aber ich bin wirklich traurig, dass ich dich nicht wiedersehen werde, Tom. Wir konnten uns ja noch nicht einmal richtig verabschieden und deshalb will ich dir wenigstens diesen Brief schreiben. Wie schade, dass du dein Versprechen nun nicht mehr einlösen kannst, ich hatte mich so darauf gefreut. Aber ich bin froh, dass ich dich kennengelernt habe und dass du mir ein bisschen von deiner Magie gezeigt hast. Dafür danke ich dir. Ich wünsche dir alles Gute und verspreche, dass ich dich niemals vergessen werde.
Liebe Grüße, Liza

Noch während des Lesens hatte Tom sich auf sein Bett sinken lassen. Nun starrten seine Augen auf das Papier, glitten wieder und wieder über die zierlichen runden Buchstaben, während sein Verstand versuchte, den Strom von Empfindungen, den die Botschaft in ihm ausgelöst hatte, zu sortieren.
Liza Reddish würde fort sein. Sie würde endgültig fort sein. Eigentlich sollte er sich darüber freuen. Vom ersten Tag an, an dem sie sich aufdringlich zu ihm gesetzt hatte, hatte er versucht, sie loszuwerden.
Doch das Muggelmädchen war ihm nützlich geworden. Mit niemandem konnte er so gut Legilimentik üben wie mit ihr. Nirgendwo konnte er eine so reine Bewunderung erleben. In den endlosen, unerträglichen Tagen im Waisenhaus war sie die einzige gewesen, mit der er über Magie sprechen konnte, über seine Welt, ja, er hatte sogar magisch handeln können, ohne gegen das Zauberverbot zu verstoßen. Er hatte sie gehasst, aber sie hatte seine Zeit in der Muggelwelt ein kleines bisschen erträglicher gemacht.
Doch es war klar – kaum hatte er angefangen, an ihrer Gesellschaft auch nur ein klein wenig Gefallen zu finden, da holten sie sie fort. Die Muggel nahmen sie ihm weg. Sie nahmen, was ihnen nicht zustand, was er für sich ausgewählt hatte, und ließen ihm nichts.
Mit einem Mal wusste Tom, dass das unerträgliche Brennen, das in ihm aufstieg, nichts anderes war als gleißender Zorn. Die Muggel nahmen, was ihm gehörte. Aber nicht mehr lange. Schon bald würde er sich so etwas nicht mehr bieten lassen. Er würde alle, die ihm etwas nahmen, vor sich im Staub kriechen lassen und vernichten wie räuberisches Ungeziefer. Doch schon jetzt wollte sein Zorn hinaus. Schon hatte er den Zauberstab herausgeholt und war kurz davor, den Brief in seiner Hand in Flammen aufgehen zu lassen.
Aber er konnte nicht. Irgendetwas hielt ihn davon ab. Liza Reddish würde fort sein und vielleicht war das hier das einzige, was ihm von ihr blieb. Seine Trophäe. Seine Augen glitten noch einmal über ihre Unterschrift in der letzten Zeile.
Liebe Grüße, Liza
Dann ließ er den Brief ganz unten in seinem Koffer verschwinden.

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt