Tom wollte sich gerade erheben, als Liza die Augen aufschlug und ihn anschaute.
„Ich habe darüber nachgedacht", sagte sie, als würde sie ein kaum unterbrochenes Gespräch wieder aufgreifen, „wie dein Leben in der Zaubererwelt aussieht."
Sie fing immer wieder mit diesem Thema an und für gewöhnlich versuchte er, es im Keim zu ersticken. Es ging sie nun einmal nichts an. Doch dieses Mal interessierten ihn ihre Worte. Er wollte wissen, ob seine Anwesenheit in ihrem Geist in ihren bewussten Gedanken Spuren hinterlassen hatte. Also zwang er sich, sie anzulächeln und seine Stimme sanft und neugierig klingen zu lassen.
„Tatsächlich? Wie stellst du es dir denn vor?"
„Oh", sie erwiderte sein Lächeln, „ich meine – du musst als Zauberer doch unglaubliche Möglichkeiten haben, oder? Was ihr alles tun könnt mit den Sprüchen, die ihr lernt. Ist es eigentlich schwer?"
Tom lehnte sich zurück und überlegte. Sein bis eben noch künstliches Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen.
„Für manche schon, für mich eher nicht."
„Dann bist du besonders gut?" Lizas blaue Augen musterten ihn aufmerksam.
„Kann man so sagen." Er war einer der besten Schüler der Schule – seit Jahrzehnten.
„Ihr habt also richtige Fächer und bekommt richtige Noten?"
„Fächer und Noten und Hausaufgaben und Abschlussprüfungen. Was erwartest du, Liza? Es ist eine Schule."
„Aber doch anders als eine normale Schule!"
„Anders als eine Muggel-Schule, meinst du. Wie stellst du sie dir vor?"
Liza schloss die Augen und ein seltsamer Glanz legte sich über ihr Gesicht.
„Groß und alt", begann sie leise, „geheimnisvoll und dunkel, überall brennen Fackeln und dazwischen sind lange Schatten, es gibt Ecken und Winkel und Türen, durch die man nicht gehen darf, außerdem noch einen ganz hohen Turm mit einer Bibliothek darin, überall stehen magische Geräte herum und die Lehrer tragen Umhänge und spitze Hüte und sind alle sehr alt und sehr streng."
Tom musste lachen. Manches davon traf Hogwarts erstaunlich gut, anderes war vollkommener Unsinn. Er erkannte darin Bilder wieder, die er in ihren Gedanken gesehen hatte. Anscheinend wurden die Bilder aus dem Unterbewusstsein durch das Eindringen in die Gedanken aufgewirbelt und an die Oberfläche geholt. Doch gleichzeitig deutete nichts darauf hin, dass Liza davon bewusst etwas bemerkt hatte.
„Geheimnisvoll stimmt, aber wie kommst du auf dunkel?", setzte er das Gespräch fort, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er wollte noch mehr über ihre Reaktion herausfinden. „Es wäre ziemlich unpraktisch, wenn es überall dunkel wäre. Außer im Kerker vielleicht."
Ihre Augen wurden groß. „Es gibt einen Kerker?"
„Klar. Hogwarts ist ein altes Schloss."
Ganz entgegen seiner Erwartung begann das Gespräch, ihm Spaß zu machen. In Lizas Blick war etwas, das ihn in seinen Bann schlug. Es war keine Angst und er konnte sich nicht genau erklären, was es war – aber es gefiel ihm.
„Aber... in dem Kerker wird doch niemand eingesperrt – oder?"
„Nun, man könnte dort jedenfalls jemanden einsperren und in früheren Zeiten wurde er dafür auch noch genutzt. Es heißt, wer einmal im Kerker gefangen ist, kann ihm nicht mehr entkommen. Angeblich gibt es dort unten sogar eine alte Knochenkammer."
„Huh!" Liza schauderte, doch gleichzeitig wurde dieser besondere Ausdruck in ihren Augen noch stärker.
Tom beobachtete sie fasziniert.
„Außerdem ist die ganze Schule voller Geister", fügte er leise hinzu.
„Nein!", hauchte Liza.
„Doch. Sie können durch die dicksten Wände gleiten und plötzlich vor dir auftauchen, wenn du sie am wenigstens erwartest."
„Das heißt, du bist ihnen schon begegnet?"
„Natürlich. Manche von ihnen sind sogar ganz unterhaltsame Gesprächspartner."
„Aber – sind sie nicht unheimlich?"
„Nicht wirklich, sie sind ja nicht in der Lage, etwas Richtiges zu tun, sie sind vollkommen substanzlos. Man sollte es allerdings vermeiden, durch einen Geist hindurchzulaufen, das ist alles andere als angenehm."
Lizas Mundwinkel hoben sich zu einem Grinsen. „Wie fühlt es sich an?"
„Wie eine eiskalte Dusche."
„Ist dir das schon mal passiert?"
„Ein einziges Mal. Aber ich bin nicht so dumm, einen Fehler zu wiederholen."
„Das glaube ich", murmelte Liza und schaute ihn wieder mit diesem eigenartigen Ausdruck an. „Was – was sind das für Fächer, die ihr in – in Hogwarts habt?"
Tom zögerte. Bisher hatte er ihr nichts davon erzählen wollen – aber machte es wirklich einen Unterschied? Wenn es ihm jetzt gefiel, darüber zu reden, warum sollte er es dann nicht tun? Es war seine eigene Entscheidung.
„Zauberkunst", begann er langsam, „da lernt man, Dinge mit den richtigen Zaubersprüchen und Stabbewegungen zu verzaubern. In Verwandlung lernt man, wie man Gegenstände und Lebewesen in etwas anderes verwandelt, in Zaubertränke lernt man, wie man Tränke braut und in Kräuterkunde lernen wir alles über magische Pflanzen. Dann gibt es noch Astronomie und Geschichte der Zauberei und zum Beispiel Arithmantik, da geht es um die Magie der Zahlen."
Lizas Augen glitzerten. „So vieles!", flüsterte sie. „Und gibt es davon etwas, das dir besonders gut gefällt, Tom?"
Wieder zögerte Tom. Nicht, weil er darauf keine Antwort wusste – für ihn gab es eine Antwort auf diese Frage, ohne jeden Zweifel. Aber er hatte ihr den Namen seines Lieblingsfaches bisher noch nicht einmal genannt. Es erschien ihm immer noch zu besonders, um es vor den unwürdigen Ohren eines Muggels auszusprechen.
„Ich kann alles", erwiderte er.
Liza lachte. Es war kein verächtliches Lachen, eher ein zustimmendes, bestätigendes. Dabei schaute sie ihm direkt in die Augen und mit einem Mal wusste Tom, was der Ausdruck in ihren Augen bedeutete.
Es war Bewunderung. Reine, aufrichtige Bewunderung. Nicht überschattet von einer gewissen Furcht wie bei seinen Mitschülern, deren Bewunderung er sich erst hatte erarbeiten müssen. Liza bewunderte ihn für das, was er war.
Tom spürte, wie ein Strudel von Macht ihn erfüllte, ähnlich dem Gefühl, das er verspürte, wenn er einen besonders anspruchsvollen Zauber vollkommen beherrschte. Er genoss Lizas Bewunderung. Er wollte diese Bewunderung.
Ihm, Tom Marvolo Riddle, stand es zu, bewundert zu werden, und er wollte mehr davon. Er wusste, was er dafür tun musste.
„Es gibt noch ein weiteres Fach in Hogwarts", fuhr er fort, ohne den Blickkontakt mit dem Muggelmädchen auch nur für eine Sekunde abreißen zu lassen, „Verteidigung gegen die dunklen Künste. Dabei geht es darum, sich gegen magische Angriffe zu verteidigen, Flüche und Gegenflüche zu beherrschen, mit Hilfe von Magie zu kämpfen. Aber nur, wer die dunklen Künste gut genug kennt, kann sich wirklich dagegen verteidigen. Dunkle Magie ist die mächtigste Magie, die es gibt. Also geht es darum, noch mächtiger zu werden. Tod und Vernichtung zu besiegen, ihnen überlegen zu sein. Das möchte ich lernen und ich weiß, dass ich es kann. Aber es ist mehr als die Schule mir jemals beibringen kann."
Liza starrte ihn wie hypnotisiert an und dieses Mal nutzte er den Blick in ihre Augen, um in ihre Gedanken einzudringen. Zweimal so kurz hintereinander in ihre Gedanken einzudringen, konnte riskant sein, er hatte noch keine Erfahrung damit, aber in diesem Augenblick konnte und wollte er nicht darauf verzichten. Er wollte ihre Bewunderung nicht nur sehen, er wollte sie spüren, sie in ihrer ganzen Vollkommenheit erfahren.
Und da war sie. Lizas Gedanken waren voll davon. Er sah sich selbst durch ihre Augen, größer, makellos, unvergleichlich, durchströmt von einer Macht, die so kräftig pulsierte, dass sie ihn wie eine beinahe schon greifbare Aura umgab. Er sah sich selbst, wie er kämpfte und widerstand und wunderbare Dinge tat, auch wenn diese Dinge in einer Art Nebel lagen, weil Liza sie sich nicht wirklich vorstellen konnte. Doch die Bewunderung war da, ein Staunen und eine Verneigung vor allem, was er tat. Es waren warme Empfindungen, wie er sie selbst noch nie zuvor empfunden hatte, und sie hüllten ihn ein wie ein stärkender und schützender Mantel.
Langsam, jede dieser Empfindungen auskostend, zog er sich aus ihrem Geist zurück, bis er sie wieder vor sich sah, ihre blauen Augen, ihr sommersprossiges Gesicht, ihre Haare, die sich leicht im Wind bewegten wie die Blätter der Buche über ihnen.
„Was willst du machen, wenn du das alles kannst?", flüsterte sie.
„Der mächtigsten Magier aller Zeiten werden", flüsterte er zurück.
Sie nickte, als würde es daran nicht den geringsten Zweifel geben, während ihre Augen noch immer auf seinen ruhten.
***
Von diesem Augenblick an duldete Tom Liza nicht nur unter seinem Baum, sondern holte sie so oft wie möglich zu sich, damit sie ihm Gesellschaft leistete. Dass er dabei mit ihr über Dinge sprach, die eigentlich niemanden etwas angingen, am wenigsten einen Muggel, hatte dabei für ihn nicht mehr die geringste Bedeutung. Für ihn war das Muggelmädchen in diesen Momenten längst keine eigenständige Person mehr, sondern vielmehr sein Werkzeug, eine Art magischer Spiegel, der ihm seine Wünsche und Gedanken viel deutlicher vor Augen führte, als ein bloßes auf seinen eigenen Geist beschränktes Nachdenken es jemals vermocht hätte.
Zu Beginn dieser Treffen redete er mit ihr über die Dinge, auf die er ihre Aufmerksamkeit richten wollte, dann drang er in ihre Gedanken ein, um es sich anzusehen. Er tauchte ein in ihre Bewunderung und wollte immer mehr davon.
Das war die Schuldigkeit der Muggel. Endlich hatte er es erkannt. Er hatte schon immer gewusst, wie falsch es war, dass den Muggeln die Herrschaft über den größten Teil der Welt überlassen wurde, während Hexen und Zauberer im Verborgenen leben mussten. Er hatte am eigenen Leib erfahren, wie erniedrigend und unzumutbar es war, unter Muggeln zu leben. Trotzdem hatte er sich gefragt, wo der Platz war, der ihnen zustand. Es ging darum, sie zu unterwerfen, aber nicht ohne Ziel und Zweck.
Die Zaubererschaft musste sich erheben und sich die Muggel Untertan machen. Muggel, die an ihren eigenen Vorteilen festhalten wollten, mussten vernichtet werden. Muggel, die versuchen würden, sich weiterhin über die Magier zu stellen, genauso wie Muggel, die versuchen würden, Zauberer und deren Magie für ihre eigenen Zwecke auszunutzen. Doch es ging nicht darum, die Muggel vollkommen auszulöschen. Das würde eine ziemlich leere und langweilige Welt ergeben.
Nein, in den Stunden, die er sinnierend und umgeben von wohltuender Bewunderung in Lizas Geist verbrachte, sah er alles ganz klar vor sich. Die Muggel waren dazu da, die Zauberer zu bewundern und zu ihnen aufzuschauen. Vollkommene Unterwerfung und Bewunderung – das war der Platz, der ihnen zustand.
Doch Tom wusste, dass die Mehrheit der Zaubererschaft zu feige war, ihnen diesen Platz zuzuweisen. Auch wenn die meisten von ihnen es ganz genau so gewollt hätten – niemand würde es tun. Nicht, solange Narren und Zauderer Einfluss hatten, Greise wie Schulleiter Dippet, denen ihre eigene Bequemlichkeit über alles ging, Lehrer wie Dumbledore, die Harmonie der Macht vorzogen, oder Muggelfreunde wie Zaubereiminister Spencer-Moon, von dem es hieß, dass er mit dem Premierminister der Muggel auf Du-und-Du war. Nicht, solange er, Tom Marvolo Riddle, ein Schüler war und sich an die Gesetze dieser Zauderer halten musste.
Aber die Zeiten würden sich ändern. Seine Zeit würde kommen. Wenn er erst einmal der mächtigste Magier der Welt war, würde er die Muggel an ihren Platz verweisen und die Zaubererschaft zu wahrer Größe führen.
Doch er wollte nicht warten. Er wollte es sehen. Jetzt. Er würde die letzten Tage der Sommerferien nutzen, um in der Magie der Legilimentik noch einen weiteren Schritt voranzugehen. Bisher hatte er Lizas Gedanken und Empfindungen gelesen, sich ihren Willen unterworfen und ihr Handeln beeinflusst und er hatte ihre größte Angst erkundet. Er wollte wissen, ob noch etwas anderes möglich war. Gelesen hatte er nichts darüber, aber er wusste, dass es immer möglich war, mit Fähigkeit und Geschick die bisher bekannten Grenzen der Magie zu erweitern. Er würde es versuchen und er hatte keinen Zweifel daran, dass er, Tom Marvolo Riddle, schaffte, was er sich vornahm.
***
„Liza? Komm."
Es war einer der letzten Nachmittage der Ferien und sie gingen gemeinsam vom Speisesaal durch den Eingangsflur. Der Regenbogen zog über sie hinweg und malte bunte Streifen auf Lizas Haare. Das Muggelmädchen redete die ganze Zeit über lebhaft, aber er hörte nicht richtig zu. Immer wieder erschien das strahlende Lachen auf ihrem Gesicht und ihre Augen funkelten.
Er führte sie zu seinem Platz unter der alten Blutbuche.
„Setz dich."
Gespannt schaute sie ihn an. Sie erwartete, dass er ihr etwas über Magie erzählte, so wie er in den letzten Tagen immer getan hatte.
„Noch vier Jahre, dann werde ich meinen Schulabschluss machen", begann er leise. „Was glaubst du – was werde ich dann machen?"
„Du wirst der mächtigste Magier der Welt werden."
Allein in ihrem Blick lag schon so viel begeisterte Bewunderung, dass er die Augen nicht abwenden konnte. Er erwiderte ihr Lächeln und nickte.
„Ja", flüsterte er, „aber ich würde gerne wissen, was das genau bedeutet."
„Erzähl es mir, Tom", murmelte Liza – und dann lehnte sie sich plötzlich an ihn. Das hatte sie noch nie getan und Tom war selbst überrascht, dass er bei einer solchen Berührung nicht zurückzuckte. Doch als sie nun auch noch ihren Kopf an seine Schulter legte, stellte er fest, dass es sogar angenehm war. Er spürte die zarte Wärme, die von ihrem Körper ausging, und als er einatmete, nahm er den Duft ihrer Haare wahr. Sie hatten nicht nur die Farbe von Honig, sondern rochen auch danach. Und noch nach etwas anderem. Tom atmete noch einmal ein. Gras. Frisches Gras im Sonnenschein. Wie die Wiese am Schwarzen See in Hogwarts.
Hogwarts? Wie konnte es sein, dass sie nach Hogwarts roch? Nein, unmöglich!
Tom zwang sich, die Augen zu öffnen, die sich ohne sein Zutun geschlossen hatten.
„Ich – ich werde", begann er und schüttelte leicht den Kopf über den Klang seiner Stimme.
Nach einem kurzen Räuspern setzte er noch einmal an: „Ich werde dir von meinen Plänen erzählen."
Statt zu erzählen, drang er in ihren Geist ein, so wie er es geplant hatte. In ihren Gedanken sah er sich, so wie er in ihrer Vorstellung als mächtigster Magier der Welt aussah. Seltsamer Weise stellte sie sich dabei immer vor, dass er auf der Spitze eines hohen Berges stand. Er wusste nicht so recht, was das bedeuten sollte, aber anscheinend ging in ihrer Vorstellung „mächtig" mit „hoch oben" einher. Es sollte ihn nicht weiter stören, schließlich hatte er heute ohnehin nicht vor, sich mit dem Bild zu begnügen, das ihre Fantasie entwarf.
Er wollte ihre Vorstellung verändern. Ihren Geist erweitern, ihr seine eigenen Gedanken und Vorstellungen einimpfen. Eine vollständige Manipulation der Vorstellungskraft. Tom selbst war gespannt, wie umfassend das möglich war – wenn es ihm vollständig gelang, dann würden ihre Gedanken und Erinnerungen schon in wenigen Sekunden seine sein. Unter seiner Kontrolle, nichts mehr würde ihr gehören. Was sie für wahr hielt, würde ganz allein von ihm kommen.
Sein eigenes Bewusstsein streckte sich nach der Gestalt auf dem Berg aus. Bisher hatte Magie in Lizas Gedanken immer sehr undeutlich ausgesehen, weil ihr die Vorstellung davon fehlte. Jetzt zog sein vorgestelltes Ich den Zauberstab. Er sah ganz genau so aus wie sein richtiger Zauberstab aus Eibenholz und Phönixfeder.
Einen kleinen Augenblick lang drehte er ihn nur hin und her – dann legte er los. Er tat Dinge, die er schon immer hatte tun wollen, von denen er bisher aber nur in Büchern gelesen hatte. Erst veränderte er die Landschaft. Das einsame, zerklüftete Gebirge verschwand, der Berg durchflog Zeit und Raum und rückte näher an die Ländereien von Hogwarts, bis er über dem Schwarze See aufragte. Zufrieden mit der Position streckte Tom beide Arme in die Höhe und verwandelte den Himmel in einen Strudel aus Licht und Farben. Die Beherrschung der Elemente war erstaunlich einfach, wenn man sie in Gedanken durchging. Er zwang die Wolken zur Seite, bis die Sonne einen hellen Strahl auf die Stelle warf, an der er hoch aufgerichtet stand. Fernere Gefilde tauchte er in Dunkelheit.
Dann wandte er sich dem Land zu seinen Füßen zu. Mit kreisenden und peitschenden Bewegungen seines Zauberstabs rief er die Menschen herbei. Von allen Seiten kamen sie und strömten auf ihn zu. Hexen und Zauberer in der Mitte, auf dem von der Sonne erhellten Platz. Sie erhoben ihre Zauberstäbe und streckten sie ihm entgegen. Ihnen folgten andere Kreaturen. Muggel, die ihre Plätze im Schatten um die Magier herum einnahmen und sich ehrfurchtsvoll zu Boden warfen.
Kurz tasteten die Ausläufer seines Bewusstseins nach Lizas Bewunderung, um sich zu vergewissern, dass sie ihm noch folgte. Doch eigentlich interessierte er sich in diesem Augenblick kaum noch für das Muggelmädchen, zu berauscht war er von dem Bild, das er selbst von sich gezeichnet hatte.
Ihre Bewunderung reichte ihm längst nicht mehr. Er wollte die Bewunderung der Massen, der Menschen, die er in ihren Gedanken erschaffen hatte. Er wollte die Bewunderung von Muggeln und Magiern.
Er musste sich ihnen zu erkennen geben. Ihnen sein Zeichen zeigen. Sich als mächtigster Magier aller Zeiten offenbaren – wie sollten sie es sonst wissen? Einen Augenblick zögerte er. Was war der nächste Schritt, den er gehen musste?
Im nächsten Augenblick handelte sein Selbst auf dem Gipfel wie von allein. Er reckte seinen Zauberstab in den Himmel und zischte ein Wort auf Parsel, das Tom noch nie gehört hatte, aber das ihm vertraut war, als hätte es schon immer in seinem Geist existiert und nur darauf gewartet, endlich hinausgelassen zu werden.
„Morsmordre!"
Ein grüner Strahl zischte aus seinem Zauberstab hervor. Wie aus dem Nichts erschienen Wolken vor der strahlenden Sonne. Wolken, die sogleich eine Gestalt einnahmen. Die Gestalt eines riesigen Schädels. Ein Anflug des Entsetzens erfasste Tom. Was hatte er getan? Was hatte das Zeichen des Todes hier in seinen Gedanken verloren?
Doch fast im gleichen Augenblick öffnete sich der Mund des Schädels und eine riesige Schlange wand sich daraus hervor. Majestätisch zog sie ihre Kreise und schlängelte sich züngelnd über den ganzen Himmel. Tom triumphierte. Die Schlange! Die lebende Schlange, die aus dem Totenschädel hervorkam. Damit hatte er den Tod besiegt!
Das war sein Zeichen! Das bedeutete, dass er schaffen würde, was er sich vorgenommen hatte. Der mächtigste Magier aller Zeiten zu werden, mächtiger als der Tod.
Eine irre Freude erfüllte ihn. Er hatte das Gefühl, anzuschwellen – er hätte zerplatzen können.
Fast im selben Augenblick brach etwas anderes wie eine Welle über ihn herein. Ein Schmerz, so gewaltig, dass er alles andere betäubte. Er explodierte in seinem Kopf und dehnte sich von dort in seinen ganzen Körper aus. Begleitet von einem Schrei aus dem Nichts.
Liza Reddish. Er hatte das Muggelmädchen mittlerweile vollkommen vergessen, während er die ganze Zeit über seine Visionen aus ihren Gedanken gebaut hatte. Er wusste es sofort, auch wenn er vor Schmerz kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Er war zu weit gegangen.
Mit einem Schlag verschwand alles um ihn her. Der Schädel mit der Schlange, die jubelnde Menge, sein Ich auf dem Gipfel. Auch Landschaft und Himmel verschwanden und hinterließen nichts als eine undurchdringliche Schwärze.
Das Nichts in Lizas Kopf hüllte ihn ein. Der Schmerz jedoch blieb. Tom versuchte, sich zurückzuziehen, doch er hatte vollkommen die Orientierung verloren. War es möglich, im Geist eines anderen Menschen verloren zu gehen? Nie wieder hinaus zu finden, für immer darin zu fangen zu sein? War es möglich – hier drinnen zu sterben?
Panik erfasste Tom. Eben hatte er sich noch als den mächtigsten Magier aller Zeiten gesehen – und nun sollte er für immer in den Gedanken eines Muggels gefangen bleiben!
Nein! Nein, so etwas konnte er auf keinen Fall zulassen. Er war Tom Marvolo Riddle, er ließ sich nicht einfach von fremden Gedanken fangen. Er musste sich an sich selbst erinnern und seiner eigenen Spur folgen, seinen eigenen Gedanken. Wer er war und was er wollte – das würde ihn hinausführen.
Er tastete sich vorwärts. Hinaus aus dem Nichts. Gerade erschien es ihm noch wie die Unendlichkeit – im nächsten Augenblick fand er sich unter der alten Blutbuche wieder und die Sonne schien ihm ins Gesicht.
Keuchend öffnete er die Augen und blickte zu Liza hinüber, die ihre Augen im selben Augenblick aufschlug. Entsetzen und Verwirrung standen darin.
„Liza-"
„Tom-"
Mit zitternden Fingern strich sie sich über die Schläfen.
„Tom, was – wo bin ich? Wo war ich?"
Ihre Augen zuckten unruhig zwischen ihm und dem Hof hin und her. Er wollte etwas Belangloses sagen, um sie zu beruhigen – nicht aus Sorge, sondern weil es ihm wichtig erschien, dass sie dem, was sie in ihren Gedanken gesehen hatte – falls sie sich denn überhaupt daran erinnerte – nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Es wäre besser, wenn sie es vergaß.
Er dagegen durfte es nicht vergessen. Er musste sich erinnern, an den Schädel mit der Schlage und den Zauberspruch, mit dem er ihn heraufbeschwören konnte. Eines Tages würde er sein Zeichen sein.
„Du – du bist eingeschlafen und ich glaube, du hast irgendetwas geträumt", brachte er endlich hervor. „Ich – ich habe versucht, dich zu wecken. Es sah aus wie ein Alptraum."
Ihre blauen Augen schauten ihn an, ohne eine Spur des Lächelns, das sonst immer darin war. Dann strich sie sich schaudernd über die Arme.
„Es ist kalt geworden, Tom", murmelte sie, „ich muss hineingehen. Ich habe sowieso noch Tischdienst heute."
Es war eine Lüge, er wusste, dass sie an diesem Tag keinen Tischdienst hatte. Doch sie hatte sich schon erhoben, noch ehe er etwas erwidern konnte.
Er schaute ihr nach, bis sie um die Hausecke verschwunden war. Seine Hand strich über das Gras, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Mit einem Mal kam der Platz an seiner Seite ihm seltsam leer vor.
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Toxic Tom: Muggelmädchen
FanfictionTom Marvolo Riddle ist düster, geheimnisvoll und gefährlich - und er verabscheut andere Menschen. Doch was passiert, wenn er gezwungen ist, sich auf eine andere Person einzulassen? -- Tom Riddle kehrt nach seinem ersten Schuljahr in das Waisenhaus d...