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Mit jedem Schritt, den er machte, schien das Gebäude vor ihm größer zu werden. Es ragte schrecklich vor ihm auf, hoch und dunkel, bedrohlich und unbezwingbar wie ein furchtbares Gefängnis. Nichts anderes war es, Wool's Waisenhaus, sein Gefängnis für den Sommer. Seit drei Jahren besuchte er nun schon Hogwarts, doch immer wieder musste er an diesen Ort zurück und daran würde sich so schnell nichts ändern. Auch in den nächsten drei Jahren würde er hierher zurückkehren müssen.
Ganz gleich, was er tat und wie gut er war. Es war egal, dass Slughorn ihm wieder und wieder versicherte, er habe noch nie einen so intelligenten und talentierten Schüler gekannt wie ihn – es änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn Jahr für Jahr hierher zurückschickten.

Mit größtem Widerwillen trat er durch das schmiedeeiserne Tor. Sogleich schlug das Gekreische von Kinderstimmen wie eine Welle über ihm zusammen. Auch wenn er sie von hier aus nicht sehen konnte, wusste er, dass sie auf der anderen Seite des Hauses spielten. An warmen Sommertagen wie diesem hatten sie schon immer viel Zeit draußen verbracht.
Er hasste diese Gesellschaft, verabscheute das Kreischen und Lachen und die sinnlosen Tätigkeiten, die sie als „Spielen" bezeichneten. Zum Glück hatte er nichts weiter mit ihnen zu tun, als dass er sie aus der Ferne ertragen musste. Die Muggel hier hatten ihn schon immer gemieden – bis auf...

Eine Gestalt kam um die Hausecke gestürmt und auf ihn zu gerannt.
„Tom! Ich dachte doch, ich habe dich gesehen, und ich hatte recht!"

Liza Reddish.

Sie blieb direkt vor ihm stehen und strahlte ihn an. Warum konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen wie die anderen? Nun, zugegebener Maßen hatte er im letzten Jahr nicht viel dazu beigetragen, sie loszuwerden. Seinen ursprünglichen Plan, sie in ihre Schranken zu weisen, hatte er nicht aufgegeben, doch der Plan musste warten. Tatsächlich war sie ihm im letzten Jahr durchaus nützlich gewesen – und vielleicht würde sie es in diesem Jahr wieder sein, bei einer anderen Sache.
Wenn da nur nicht immer dieses verfluchte Strahlen wäre! Falls möglich war es seit dem letzten Sommer noch leuchtender geworden, noch schöner und –
Toms Gedanken stockten und unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Was hatte er da gerade gedacht? Wie konnten seine Gedanken das lästige Strahlen dieses verfluchten Muggelmädchens mit dem Wort „schön" in Verbindung bringen? Zugegeben, auf irgendeine Art und Weise war sie hübsch, das hatte er schon bei ihrer ersten Begegnung festgestellt, aber es war nichts, was ihn interessierte.
Während des letzten Schuljahres hatten einige der Jungen aus seinem Jahrgang in Slytherin angefangen, immer mehr über das Aussehen irgendwelcher Mädchen zu reden. Manche schienen kaum noch an etwas anderes zu denken. Tom fand dieses Verhalten einfach nur lächerlich. Es war eine sinnlose Zeitverschwendung und hielt einen bloß davon ab, über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken. Bei Liza an so etwas zu denken war besonders lächerlich, schließlich war sie nur ein wertloses Muggelmädchen.

„Tom?"
Ebendieses Muggelmädchen schaute ihn jetzt erwartungsvoll an. Anscheinend hatte sie irgendeine Frage gestellt und wollte nun eine Antwort hören.
„Wie geht es dir?"
Was für eine alberne Frage! Auch das war so eine Unsitte, die bei Zauberern und Muggeln gleichermaßen verbreitet war. Warum fragten Leute einander ständig, wie es ihnen ging? Wen interessierte es denn schon wirklich, wie es einem anderen ging?
„Ich freue mich jetzt schon auf den Tag, an dem ich wieder von hier verschwinden kann", brummte Tom und ging auf den Eingang zu.
Liza ließ ein helles Lachen ertönen und folgte ihm. „Aber das ist doch großartig!"
Er blieb stehen.
„Was soll daran bitte großartig sein?"
„Das bedeutet, dass du es kannst!", rief Liza und hatte es damit zu seinem Ärger einmal wieder geschafft, dass er sie verwirrt anstarren musste.
Dieses Mädchen war doch verrückt! Und was meinte sie eigentlich?
„Du hast etwas gefunden, worüber du froh sein kannst!", erklärte sie.
„Was? Ich habe nicht-"
„Doch, Tom! Du kannst froh darüber sein, dass du nicht hierbleiben musst. Aber gleichzeitig kannst du auch froh darüber sein, dass du einmal im Jahr herkommen musst, denn nur so kannst du dich darauf freuen, am Ende der Ferien nach – nach Hogwarts zurückzukehren. Das sind gleich zwei Sachen auf einmal, das ist richtig gut! Und während des gesamten Sommers hast du die Vorfreude!"

Tom starrte sie weiterhin entgeistert an. Sie war wirklich verrückt! Gleichzeitig konnte er nicht umhin, eine gewisse Logik in ihren Worten zu erkennen – ein Fünkchen Wahrheit. Wenn auch eine vollkommen absurde und sinnlose Wahrheit.
„Erinnerst du dich noch daran, dass du mich damals nach dem Frohsein gefragt hast?", fuhr sie fort, während sie den Korridor betraten. Ein schmaler Regenbogen zog sich vor ihnen über den Boden.
Natürlich erinnerte er sich noch. Sie hatte sich geweigert, es ihm zu sagen, wie kam sie auf die Idee, dass er so etwas vergessen könnte? Mit gerunzelten Brauen beobachtete er Liza, während sie ohne Zögern weitersprach.
„Ich glaube, dass du jetzt bereit dafür bist", erklärte sie, „ich will es dir sagen."
Ihm lag eine verächtliche Bemerkung auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Eine eigenartige Aufregung erfasste ihn, die er sich selbst nicht so recht erklären konnte. Ihr Geheimnis . Aber es war nichts Besonderes – oder?
„Wir treffen uns nachher im Hof!", hört er sie sagen, während sie ihm noch ein breites Strahlen schenkte, herumwirbelte und im nächsten Augenblick ohne ein weiteres Wort die Treppe hinaufrannte.
Sie hatte ihn einfach stehen lassen. Sie hatte ihm vorgegeben, wann und wo sie es ihm sagen würde – genau das, was er so sehr hasste. Tom schaute ihr nach und fragte sich, warum er es überhaupt wissen wollte. Aber es war ein Geheimnis und er konnte es nicht ertragen, wenn jemand ein Geheimnis vor ihm hatte. Gerade sie hatte am allerwenigsten ein Recht dazu, nachdem sie seines gestohlen hatte.

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt