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Liza Reddish stand am Fenster und richtete ihren Blick hinaus auf den spätsommerlichen Garten. Doch sie sah nicht die letzten Sommerblüten, die ersten sich verfärbenden Blätter oder die vorüberziehenden Kraniche. Für so etwas war kein Platz in ihren Gedanken, die von einer unbestimmten Sehnsucht erfüllt wurden.
Seit über drei Jahren lebte sie nun schon im Haus der Allencourts, doch es war ihr noch immer nicht gelungen, sich hier wirklich zu Hause zu fühlen. Die Allencourts selbst hatten dazu nie etwas beigetragen – bis Felicity Allencourt vor etwa einem halben Jahr schwer erkrankt war. Liza war zu ihrer Pflegerin geworden und zu ihrer eigenen Überraschung auch zu ihrer Vertrauten. An manchen Tagen hatte sie stundenlang an Felicitys Bett gesessen und ihr zugehört, wie sie von früher erzählte, von ihrem Leben und welche Enttäuschung es für sie gewesen war, dass die Ehe mit Richard Allencourt kinderlos blieb.
„Wir hätten dich besser behandeln sollen, Liz", sagte Felicity eines Tages, „ich erkenne erst jetzt, dass du die Erfüllung der Wünsche hättest sein können, dich ich immer für unerfüllbar hielt. Aber ich war nicht in der Lage, dich als die Tochter zu sehen, die ich mir so sehr gewünscht habe. Ich weiß selbst nicht, warum. Es tut mir leid, Liz."
Dennoch hatte Felicitys Geständnis etwas zwischen ihnen verändert. Ganz langsam und fast zaghaft knüpften sie ein zartes Band und Liza verspürte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einen Hauch von dem Gefühl, das Familie bedeutete, von dem Gefühl, das sie glaubte, für immer verloren zu haben, als jene Gasexplosion ihr damals ihre wahre Familie geraubt hatte.
Doch dann starb Felictiy und der Funke, der gerade behutsam zu leuchten begonnen hatte, erlosch. Wenn überhaupt möglich, dann war Lizas Leben im Haus der Allencourts nach Felicitys Tod noch trostloser geworden. Sie erledigte weiterhin den Haushalt für Richard Allencourt, doch er sprach kaum jemals mit ihr, abgesehen von den gelegentlichen Anweisungen, die er ihr gab, und beachtete sie kaum mehr als eines der zahlreichen Möbelstücke in seinem Haus.

Liza wurde mehr und mehr von einer unbestimmte Sehnsucht erfüllt. Sie hatte das Gefühl, ihr sei etwas verloren gegangen. Doch es hatte nichts mit Felicitys Tod zu tun, auch nicht mit dem Verlust ihrer Familie.
Nein, dies hier war anders. Es war, als hätte sie etwas vergessen, ein Geheimnis, etwas, das besonders wertvoll gewesen war und ihr Hoffnung gemacht hatte. Etwas, das wichtig gewesen war, das ihr Kraft und Zuversicht gegeben hatte, und das nun unwiederbringlich verloren schien.
Sie hatte das Gefühl, als wäre tief in ihrem Inneren etwas zerbrochen. Zugleich wurde die Sehnsucht immer stärker und drängender. Gerade jetzt, als die am Fenster stand und hinaus ins Nichts blickte, erschien sie ihr besonders übermächtig und kaum noch zu ertragen.

Liza war allein im Anwesen der Allencourts, weil Richard Allencourt für einige Tage zu einem entfernten Verwandten gereist war. Seitdem sie so ganz für sich war und dazu auch weniger Arbeit hatte, kreisten ihre Gedanken noch mehr als sonst.
Immer häufiger stolperte sie über merkwürdige Lücke in ihrer Erinnerung. Ihr war, als müsste sie wahnsinnig werden, als würde sie sich selbst verlieren, wenn es ihr nicht bald gelang, ihre Erinnerung zurückzuholen.

Abrupt wandte sie sich vom Fenster ab. Liza hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde fortgehen. Ja, sie würde dieses Haus verlassen. Sie wusste nicht, warum oder wohin, aber sie spürte, dass sie es hier keine Sekunde länger aushalten würde. Es war dieses Haus, es war Richard Allencourt, es war Little Hangleton – sie konnte es einfach nicht länger ertragen. Ihre Sehnsucht trieb sie fort. Sie musste ihrer Sehnsucht folgen, sie ergründen, das Geheimnis wiederfinden, wenn sie sich selbst nicht verlieren wollte.
Wie in Trance ging Liza durch das große Haus. Sie sammelte nur wenige Sachen zusammen, nur so viel, wie in die Taschen ihres warmen Mantels passte. Mehr wollte sie nicht mitnehmen.
Auch Geld nahm sie nur wenig, so dass es gerade eben für ein Bahnticket und etwas Essen für wenige Tage reichen würde. Sie fühlte sich schlecht dabei, überhaupt etwas von den Allencourts zu nehmen, auch wenn es nur so wenig war. Wenn das Geld verbraucht war, müsste sie weitersehen – oder zurückkehren.

Ein letztes Mal blickte sie sich in dem Haus um, das schon jetzt vollkommen verlassen wirkte. Dann verschloss sie die Tür hinter sich und ging zwischen den letzten sommerlichen Blüten hindurch davon. Ein erster Herbstwind trieb graue Wolken über den Himmel, als Liza Reddish Little Hangleton verließ.

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt