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Toms Gedanken rasten. Sie wusste es! Sie wusste alles! Nein – nicht alles – aber ganz eindeutig viel zu viel! Sie kannte sein größtes und wunderbarstes Geheimnis. Und das war nicht das einzige Problem. Wenn sie wusste, dass er ein Zauberer war, dass es Magie gab – dann wusste sie auch von der magischen Welt.
Nicht im einzelnen natürlich, aber es reichte, dass sie wusste, dass so etwas existierte. Kein Muggel durfte das wissen. Kein einziger verdammter Muggel!

Was sollte er tun? Er musste es ungeschehen machen. Aber er konnte nicht rückgängig machen, was bereits passiert war.
Ihr Gedächtnis löschen! Er wusste, dass es dafür einen Zauber gab, es wurde sogar ganz offiziell gemacht, bei Muggeln, die etwas erfahren hatten, wovon sie nichts wissen durften. Den Spruch dafür kannte er, beim Stöbern in der Bibliothek hatte er ihn einmal zufällig gelesen.
Zweifel daran, dass es gelingen würde, hatte er nicht, schließlich gelangen ihm die meisten Zaubersprüche bereits beim ersten Versuch, und notfalls würde er eben ihr gesamtes verdammtes Muggelgehirn auslöschen.
Aber er durfte es nicht tun! Egal, welchen Zauber er einsetzte, er würde damit gegen das Magieverbot verstoßen. Er würde von der Schule fliegen! Mindestens aber würde er sich erklären müssen. Er würde erklären müssen, warum er gezaubert hatte, und dafür würde er erklären müssen, dass sie, dieses unwürdige Muggelmädchen, hinter sein Geheimnis gekommen war.
Sie würden ihm die Schuld geben! Sie würden sagen, dass er nicht aufgepasst habe. Sie würden unterstellen, dass er es ihr verraten habe. Als ob er jemals – ausgerechnet er! Dabei waren sie doch selbst schuld, sie allein, die ihn hierher zurückgeschickt hatten.

Seine Wut schwoll immer weiter an und gleichzeitig verstärkte er den Druck auf Lizas Hals. Ihr Atem war jetzt nur noch ein Keuchen, sie versuchte zu sprechen, aber vergeblich, ihr Augen starrten ihn mit zunehmender Angst und Verzweiflung an, während sie mit Händen und Füßen versuchte, sich gegen seinen Griff zu wehren. Doch ihre Versuche waren vergeblich, er gab keinen Millimeter nach, er war stärker als sie, mächtiger als sie. Und die Angst in ihren Augen erfüllte ihn mit Genugtuung, es war die Angst, die dorthin gehörte.
Doch wie hatte sie seine Bücher sehen können? Wie war es möglich, dass sie hinter sein Geheimnis hatte kommen können? Er musste es wissen!

„Wie konntest du meine Bücher finden?"
Seine Stimme klang fast so keuchend wie ihr Atem. Ihre Antwort war nur ein mickriges Röcheln.
„Ich will es hören!", zischte er und lockerte widerwillig den Druck auf ihre Kehle, nur einen Hauch. „Wie?"
Sie schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende, ihre Lippen bebten, doch dann hörte er tatsächlich eine leise hervorgepresste Antwort: „Ich – ich habe sie – in deinem – deinem Zimmer – gefunden."
„Aber warum warst du dort? Warum konntest du sie sehen?"
„Ich – ich musste herausfinden – ich – habe es gesehen – in deiner Hand – vorhin – im Hof – und ich – ich habe gelesen, was – darauf stand – etwas mit – mit – Zauber – und ich – musste wissen – was – das bedeutet."
Tom starrte sie an. Ihre Augen ruhten noch immer auf ihm. Eine Spur von Begeisterung hatte sich wieder in ihren Blick geschlichen, als sie das Wort Zauber ausgesprochen hatte, und mischte sich mit dem Ausdruck der Angst.
Er spürte, wie seine Hand, mit der er sie hielt, zu zittern begann. Sie hatte das Buch in seiner Hand gesehen! Fieberhaft versuchte er, seine Gedanken zu sortieren und sich auf sein Wissen über Desillusionierungszauber zu konzentrieren. Es gab verschiedene Formen dieses Zaubers. In einer einfachen Ausführung machte er Menschen, Tiere oder Gegenstände für alle möglichen Betrachter unsichtbar. In einer komplexeren Ausführung war es möglich, einzelne Personen von der Wirkung des Zaubers auszunehmen. Selbstverständlich war Tom im Falle seiner Bücher von der Wirkung des Zaubers ausgenommen, schließlich wollte er sie lesen und dafür musste er sie sehen können. Wer den Zauber gesprochen hatte oder selbst von der Wirkung ausgenommen war, konnte die Ausnahme an weitere Personen weitergeben, indem er ihnen den betreffenden Gegenstand zeigte...
Die Erkenntnis traf ihn wie ein schmerzhafter Blitz. Er selbst hatte Liza unwissentlich sein Buch gezeigt! Erneut wallte die Wut in ihm auf, Wut darüber, sich seinen eigenen Fehler eingestehen zu müssen – jeder Fehler war eine Schwäche – und Schwäche durfte es nicht geben – niemals!

„Was du in meiner Hand siehst, gibt dir noch lange kein Recht, in mein Zimmer zu gehen und darin herumzuschnüffeln, du miese, dreckige kleine Muggel-Missgeburt!", zischte er, dabei zog er Liza nach vorne und stieß sie dann noch einmal mit aller Kraft gegen die Wand, dass es krachte.
„Tom! Bitte – ich-"
Ihre Stimme war nur noch ein Zittern und er genoss ihr Flehen, trotzdem änderte das nichts an seinem Hass und seiner Verachtung.
„Bitte? Was?", stieß er hervor. „Willst du mich jetzt um die Erlaubnis bitten, mein Zimmer zu betreten? Reichlich spät, findest du nicht?"
Er verstärkte den Druck wieder und beobachtete den Schmerz in ihren Augen.
„Du wirst-"

Ein lautes Pochen ließ ihn mitten in der Drohung verstummen. Im ersten Augenblick konnte er sich den Ursprung des Geräusches nicht erklären, doch dann dämmerte ihm, dass gerade jemand an Lizas Tür geklopft hatte, und in seinen Zorn mischte sich Entsetzen.
Wenn sie jetzt entdeckt wurden – er würde es nicht ertragen können, wenn noch mehr Muggel seinem Geheimnis auf die Spur kamen. Hier lief gerade alles gewaltig schief und mit jeder einzelnen Faser wollte er Liza dafür büßen lassen, doch gerade jetzt wäre das für ihn fataler als für sie.
Nun drangen zusätzlich zum Klopfen auch noch aufgeregte Stimmen an sein Ohr.
„Liza!", rief eine Mädchenstimme. „Liza! Ist alles in Ordnung bei dir?"
Seine Hand wanderte von Lizas Hals auf ihren Mund.
„Liza!", rief die Stimme wieder. „Ich bin's, Betty! Was ist los? Wir haben Krach gehört! Bist du in Ordnung? Antworte doch!"
Tom regte sich nicht und Liza, noch immer eingeklemmt unter seinem Griff, ebenso wenig.
„Sollen wir reingehen und nachsehen?" Die Stimme eines anderen Mädchens.
„Ist sie überhaupt da drin?" Noch ein drittes Mädchen.
„Ja, sie ist da!" Das war wieder Betty. „Und dann ist er reingerannt und dann – dann ist irgendwas passiert!"
„Wer? Wer ist reingerannt?"
„Na, Tom! Tom Riddle!"
„Tom Riddle?!" Ein entsetztes Quieken.
„Tom Riddle ist da drin?"
„Ja!"
„Oh nein!"
„Liza!"
„LIZA!"
Mehrhändiges Trommeln gegen die Tür.
„Liza!"
„Tom, lass sie ihn Ruhe, hörst du?"
„Wir müssen Mrs Cole holen!"
„Ja!"
„Komm mit, Sarah, wir holen sie!" Wieder Bettys Stimme. „Ihr bleibt hier und passt auf. Liza, wir holen Hilfe, halte durch!"
Schritte, die sich hastig entfernten.
„Mrs Cole! MRS COLE!"

Toms Atem ging schnell und stoßartig. Er lockerte seinen Griff und trat einen halben Schritt zurück.
„Sie dürfen nicht-", murmelte er.
Aber jeden Augenblick würden sie wieder da sein. Und er konnte das Zimmer nicht verlassen, weil davor noch immer die Mädchen standen. Gefangen von einer Gruppe Muggelmädchen! Ein seltsames Gefühl stieg in ihm auf, wie ein Schrei, der hinaus wollte, oder ein irres Lachen. Die Situation war einfach zu lächerlich, doch er drängte das Gefühl zurück.
Wenn er seine Magie hätte nutzen können, wäre sein Weg frei. Doch ohne Magie in einer Welt voller Muggel war er machtlos. In einer Welt voller Zauberer, die zu feige waren, um zu zeigen, wem die wahre Macht gebührte.
Vielleicht sollte er... einfach... trotzdem...

In diesem Augenblick kam Leben in Liza, die bis eben noch reglos wie eine Statue an der Wand gestanden hatte.
„Sie dürfen dich hier nicht finden!", sagte sie.
Ungläubig starrte er sie an. Er hatte an alles Mögliche gedacht, aber mit so etwas hatte er nicht gerechnet.
„Es ist nicht erlaubt, dass ihr in unseren Zimmern seid", fügte sie hinzu, „die Jungen in den Zimmern der Mädchen, meine ich."
Er kannte diese Regel. Es war eine der wenigen Regeln, die in Hogwarts ganz genauso galten wie in der Muggelwelt. Aber wie konnte es sein, dass Liza sich jetzt Gedanken darüber machte? Das hier war doch ihre Gelegenheit, ihn auszuliefern!

Liza räusperte sich und strich sich über die tränenverschmierten Augen. Dann schaute sie ihn an.
„Bist du wirklich ein Zauberer?"
Er nickte mechanisch.
„Kannst du-"
„Nein", entgegnete er schroff.
Er wusste, was sie fragen wollte. Liza runzelte die Stirn und kaute auf ihrer Unterlippe.
„Mrs Cole darf dich hier nicht finden", wiederholte sie, „du musst dich verstecken!"
Er konnte sie nur anstarren.
„Warum-", brachte er mühsam hervor.
Auch Liza schien zu wissen, was er fragen wollte.
„Ich helfe dir", flüsterte sie, „und du – du – erzählst mir etwas über – über Zauberei."
Die letzten Worte waren nur ein Hauch aus ihrem Mund. Doch sie dröhnten wie Donnerschläge in seinen Ohren und es verursachte ihm Übelkeit, sie aus ihrem Mund zu hören – verbunden mit dieser Forderung.
Er schluckte. In diesem Moment war sie tatsächlich in der Position, Forderungen zu stellen. Wie er es hasste!
Doch der Moment würde vorübergehen. Alles würde sich ändern. Er brauchte nur für den Moment darauf einzugehen.
„In Ordnung", sagte er und seine Stimme krächzte wie zuvor Lizas, als er noch die Hand an ihrer Kehle gehabt hatte.

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt