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Lizas Augen flogen durch das Zimmer. Es gab kaum Versteckmöglichkeiten in dem spärlich möblierten Raum.
„Da hinein!", entschied sie und deutete auf den Schrank, nur um gleich darauf hinzuzufügen: „Nein, warte! Unter das Bett!"
„Unter das Bett?", wiederholte Tom. Es war kaum Platz zwischen Matratze und Boden.
„Da wird sie dich nicht erwarten", erklärte Liza.
Ich mich auch nicht, schoss es ihm durch den Kopf.
„Mach schon!"
Er wusste, dass sie keine Zeit hatten.
„Ich will meine Bücher haben", verlangte er.
„Schnell!", zischte Liza nur und wagte es doch tatsächlich, das, was er gesagt hatte, einfach zu ignorieren.
„Sie darf die Bücher auf keinen Fall sehen!", beharrte er.
„Darum werde ich mich kümmern", erklärte Liza, „nun mach schon!"
Sie schob ihn zum Bett und versuchte dabei allen Ernstes, ihn nach unten zu drücken.
„Was ist hier los?"
Mrs Coles Stimme direkt vor der Tür hielt ihn von einer wütenden Antwort ab. Tom warf sich auf den Boden und zwängte sich seitlich unter das Bett. Aus den Augenwinkeln sah er gerade noch, wie Liza ihre Bettdecke über seine Bücher schlug und sie glattstrich.
Dann schnappte sie sich den Band mit Lyrik Lord Byrons von der Fensterbank und ließ sich auf das Bett plumpsen. Irgendetwas drückte sich schmerzhaft in seinen Rücken.

Die Tür flog auf.
„Um Himmels Willen, Liza! Was ist hier los?" Mrs Coles aufgebrachte Stimme erfüllte den Raum.
Tom konnte Liza nicht sehen, nur ihre wippenden Füße hatte er direkt vor der Nase.
„Oh. Guten Abend Mrs Cole." Höfliche Überraschung in Lizas Stimme.
„Was-" Mrs Cole unterbrach sich und Tom malte sich aus, wie sie sich im Raum umblickte. „Die anderen Mädchen erzählen die wildesten Geschichten. Was ist hier los?"
„Los?", echote Liza, reine Unschuld in der Stimme. „Was soll hier los sein?"
„Ich hatte erwartet, dass du mir das sagen könntest", entgegnete Mrs Cole.
Sie kam jetzt näher. Tom konnte nur ihre Füße sehen. Graue, klobige Straßenschuhe.
„Die Mädchen sagten, sie haben hier Lärm gehört?" Sie ließ es wie eine Frage klingen.
„Lärm? Nein, ich habe bestimmt keinen Lärm gemacht, Mrs Cole."
Genaugenommen war das ja noch nicht einmal gelogen.
„Und du bist sicher, dass niemand in deinem Zimmer war?"
„Nein. Ich meine, ja, ich bin sicher."
„Aber Betty und Sarah sind überzeugt davon, dass sie hier Stimmen gehört haben."
„Stimmen? Nein – das heißt ja, ich glaube, ich weiß, was Sie meinen!" Liza lachte plötzlich auf.
Tom hielt die Luft an.
„Sehen Sie, Mrs Cole, ich habe diese Gedichte hier gelesen. Und ich bin der Meinung, dass Gedichte laut gelesen werden müssen. Vater hat auch immer gesagt, Gedichte müssen laut gelesen werden. Deshalb habe ich mich ein wenig ausprobiert."
Tom hörte Papier rascheln und im nächsten Augenblick begann Liza mit lauter Stimme zu deklamieren:

„When we two parted*
In silence and tears,
Half broken-hearted
To sever for years,
Pale grew thy cheek and cold,
Colder-"

„Das ist ja alles schön und gut", unterbrach Mrs Cole, offensichtlich ein wenig irritiert, „aber – es war wirklich sonst niemand hier?"
„Nein, es war niemand hier."
Mrs Cole begann im Zimmer hin und her zu gehen. Tom hörte die Schranktür klappen. Das wäre also wirklich kein geeignetes Versteck gewesen. Hoffentlich kam sie nicht auf die Idee, auch unter dem Bett nachzusehen. Seine Finger umfassten den Zauberstab. Nur für den Fall...

„Hören Sie, Mrs Cole, es geht noch weiter!", ertönte wieder Lizas Stimme.

„The dew of the morning
Sunk chill on my brow—
It felt like the warning
Of what I feel now.
Thy vows are all broken,
And light is thy fame;
I hear thy name spoken,
And share in its shame."

Tom musste zugeben, dass sie gut war. Vor ein paar Minuten hatte sie noch keuchend und nach Luft ringend an der Wand gestanden und jetzt spielte sie Mrs Cole die perfekte Komödie vor.

„They name thee before me,
A knell to mine ear;
A shudder comes o'er me—
Why wert thou so d-"

„Liza Reddish, das reicht nun wirklich!", unterbrach Mrs Cole abermals den Vortrag. „Es ist jetzt wirklich nicht die richtige Zeit für so etwas! Ihr solltet alle zusehen, dass ihr in eure Betten kommt!"
„Oh, Mrs Cole, hören Sie sich doch bitte auch noch das Ende an!", rief Liza und fuhr voller Inbrunst fort:

„In secret we met—
In silence I grieve,
That thy heart could forget,
Thy spirit deceive.
If I should meet thee
After long years,
How should I greet thee?—
With silence and tears."

„Liza Reddish!" Mrs Coles Stimme klang scharf vor Empörung und Tom konnte sich ihren Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen. Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.
„Sei still und sieh zu, dass du in dein Bett kommst und das Licht ausschaltest! Ich will von dem ganzen Unsinn nichts mehr hören!"
Ihre Schritte bewegten sich zur Tür.
„Und ihr" – sie riss die Tür auf und knallte sie so laut zu, wie es den Kindern immer verboten wurde – „seht zu, dass ihr in eure Zimmer kommt!"
Ihre Stimme war so laut, dass sie durch die geschlossene Tür genau so deutlich zu hören war wie eben, als sie noch mitten im Raum gestanden hatte.
„Ich will nicht noch einmal wegen eines solchen Unfugs aus meinen Büro geholt werden!"
„Aber Mrs-"
„Kein Aber! Ab mit euch!"

Tom hörte sich eilig entfernende Schritte, darunter auch die von Mrs Cole, die sich Richtung Treppe bewegten. Er ließ das Grinsen von seinem Gesicht verschwinden und schob sich unter dem Bett hervor.
Liza saß noch immer auf der Decke, den Band mit Gedichten Lord Byrons in der Hand, und schaute ihn erwartungsvoll an. Wenn sie erwartete, dass er sich bedankte, dann hatte sie sich getäuscht, schließlich war das alles ihre Schuld.
„Gib mir meine Bücher", sagte er.
Doch sie rührte sich nicht und saß weiterhin so, dass ihm der Weg zu den Büchern versperrt war.
„Du hast mir versprochen, mir etwas über Zauberei zu erzählen."
Er runzelte die Stirn. Von wegen versprochen!
„Und jetzt ist die beste Gelegenheit", fuhr sie fort, „niemand kann uns hören und es ist sowieso sicherer, wenn du noch ein bisschen wartest, bevor du rausgehst."
Sie zeigte auf den Stuhl neben ihrem Bett. „Setz dich!"

Er zögerte. Wie er es hasste, so aufgefordert zu werden! Aber in diesem Moment war es fast schon egal. Die Muggel-Missgeburt wusste auch so schon mehr, als gut für sie war, und immerhin hatte sie sich an ihren Teil der Abmachung gehalten. Er warf ihr einen bösen Blick zu und zog den Stuhl möglichst weit von ihrem Bett fort, ehe er sich mit verschränkten Armen darauf niederließ.
„Du hast drei Fragen", brummte er.
„Bist du wirklich ein Zauberer?", platzte es aus ihr heraus.
Tom hob eine Augenbraue.
„Die Frage hast du vorhin schon gestellt und die Antwort hat sich in der kurzen Zeit nicht verändert. Also hast du jetzt noch zwei Fragen."
Liza presste die Lippen aufeinander.
„Diese Schule", murmelte sie schließlich, „deren Name vorne in dem Buch steht – Hogwarts – ist das die Schule, auf die du gehst?"
„Ja."
Sie starrte ihn mit großen Augen an, aber er würde kein weiteres Wort darüber verlieren. Wenn sie die Fragen so verschwendete, konnte es ihm nur recht sein.
„Und dort", begann sie ihre dritte Frage, „lernst du, ein Zauberer zu sein?"
Er schüttelte den Kopf. Wie war es nur möglich, dass Muggel so dämlich waren?
„Nein! Man kann nicht lernen, ein Zauberer zu sein. Man wird so geboren, als Zauberer oder als Hexe. In der Schule lernt man nur, die Magie richtig einzusetzen. Man lernt die richtigen Zaubersprüche und – und andere Dinge, die dich nichts angehen."

Damit erhob er sich. Das lächerliche Frage-und-Antwort-Spiel war beendet. Doch sie rührte sich noch immer nicht von der Stelle.
„Könnte ich es auch lernen, wenn ich auf diese Schule gehe – eine Hexe zu sein?", fragte sie mit einem Leuchten in den Augen, das noch schlimmer war als sonst.
„Wozu stellst du eigentlich deine dummen Fragen, wenn du doch nicht zuhörst?", schnaubte er. „Man kann es nicht lernen! Nichts und niemand wird jemals aus einem Muggel wie dir eine Hexe machen!"
Ungeduldig machte er einen Schritt auf das Bett zu. „Und jetzt-"
„Muggel", murmelte sie, „das hast du vorhin schon einmal gesagt. Was bedeutet das?"
Das war nun schon die zweite zusätzliche Frage – aber sollte sie es doch wissen!
„Muggel", zischte er, während er langsam weiter auf sie zuging, „sind solche Menschen wir du! Menschen ohne Magie. Menschen, die niemals magisch sind und es auch niemals sein werden. Und die" – er stand jetzt direkt vor ihr und sprach so leise, dass sie ihn sicher bei der geringsten Regung nicht mehr verstanden hätte – „deswegen auch verdammt nochmal kein Recht haben, sich auch nur im Traum damit abzugeben!"
Jetzt endlich wich sie vor ihm zurück. Mit einer schnellen Bewegung schlug er die Decke zur Seite und griff nach seinen Büchern. Dann drehte er sich auf dem Absatz um, um endlich von hier zu verschwinden.

„Tom! Warte!" Ihre Stimme klang so verzweifelt, als würde er sie an einem dunklen und einsamen Ort zurücklassen. „Kannst du – kannst du mir etwas davon zeigen? – Von deiner Magie?"
Ganz langsam wandte er sich wieder zu ihr um. Das war so typisch Muggel! Ihre blauen Augen lagen auf ihm, voller gespannter Erwartung. Er konnte für so etwas nur Verachtung empfinden.
„Nein", zischte er, „ich kann dir nichts davon zeigen."
„Aber", sie sprang jetzt ebenfalls auf, „du kannst es doch wirklich, oder?" – Und dann, fast schon flehend: „Es ist doch nicht alles bloß ein Scherz?!"
„Oh, nein." Ganz langsam machte Tom wieder einen Schritt auf sie zu. „Oh, nein, Liza Reddish. Nichts davon ist ein Scherz. Aber Magie" – er machte noch einen Schritt auf sie zu – „ist mächtig. Viel zu mächtig für euch Muggel. Sie würde euch vernichten. Deshalb haben wir Zauberer Gesetze. Gesetze, die euch schützen. Niemand von euch darf jemals erfahren, dass wir existieren. Und wir" – er holte seinen Zauberstab heraus und ließ ihn langsam durch die Finger gleiten – „dürfen in eurer Gegenwart nicht zaubern."
Das alles entsprach nur zur Hälfte der Wahrheit, aber die Wirkung seiner Worte gefiel ihm. Sie starrte wie gebannt auf den Zauberstab in seiner Hand. Sie schien die Macht der Magie zu spüren, allein durch seinen Anblick. Endlich schien sie zu verstehen, dass es ein Fehler war, sich dieser Macht in den Weg zu stellen – dass es ein Fehler war, sich ihm in den Weg zu stellen.

„Ich würde so gerne etwas davon sehen", hauchte sie dennoch.
Er hob seinen Zauberstab und ließ ihn über ihr Gesicht gleiten, bis die Spitze schließlich auf der kleinen Einbuchtung unter ihrer Kehle zu liegen kam.
„Das wirst du", flüsterte er, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Eines Tages werde ich nicht mehr an die Regeln meiner Schule gebunden sein. Eines Tages werde ich dir zeigen können, wozu ich wirklich fähig bin."
Ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit durchströmte ihn. Das Gefühl der Macht. Er würde seine Rache bekommen. Und sie sollte es wissen. Der Griff um seinen Zauberstab verstärkte sich.
„Tom, du-", sie wich einen halben Schritt zurück, so dass er sie nicht länger berührte, „du willst es mir wirklich zeigen?"
„Oh ja, Liza Reddish", zischte er, „das verspreche ich."
Ihre Augen flackerten. Er sah die Unsicherheit in ihrem Blick, die Erkenntnis, dass dies mehr war als nur ein Versprechen – und zugleich die ungläubige Hoffnung, die die verborgene Drohung nicht wahrhaben wollte.
„Ich bin froh, dass du es mir zeigen möchtest", murmelte sie, als müsste sie sich selbst davon überzeugen, „und dass du es mir versprochen hast."
Tom hielt den Zauberstab noch einen Moment in die Höhe, ehe er ihn wieder verschwinden ließ. Sollte das verfluchte Muggelmädchen sich doch einbilden, dass dieses Versprechen etwas war, worauf man sich freuen konnte. Am Ende würde sie doch noch erkennen, was einem Muggel wie ihr zustand. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stürmte aus dem Zimmer.

Toxic Tom: MuggelmädchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt