Erwachen

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Da es Abend war, führten wir Hédrian wieder hinein. Nachdem er mit uns gegessen hatte, schlug Mániëronté mir vor, mich gänzlich abzulösen. Sie wollte die Nacht bei ihrem Ziehvater verbringen. Ob ich auf Aën-Sangaa Lust hätte? Es begänne in Kürze.

Ich war einverstanden, denn etwas Ablenkung nach dem langen und größtenteils doch recht eintönigen Tag bei Hédrian konnte mir sicher guttun. So verabschiedete ich mich.

Da mir Hédrians Wohl am Herzen lag, bestand ich darauf, ihn am Folgeabend zu besuchen. Ich versprach, Essen mitzubringen, was Mániëronté dankbar annahm. Sie wollte Médancon und Álkaran Bescheid geben, sofern ich keinen von beiden bei Aën-Sangaa träfe.

Leichtfüßig lief ich zum mir bekannten Platz, wo ich den Darbietungen von Aën-Sangaa bisher beigewohnt hatte. Ich kam ein wenig zu spät. Die Sänger hatten schon mit ihrem Programm begonnen. Soeben ertönte ein Lied zu Ehren Víndannas, der Gerechten. Weiche Melodien fluteten über die Zuhörenden.

Leise schlich ich zu einem Platz im hinteren Bereich, um niemanden zu stören. Ich saß allein. Médancon oder Álkaran sah ich nicht, und auch nicht Fénandessa.

Es war ein lauer Abend, und ich lauschte der Musik und erfreute mich an der guten Luft. Eine sehr friedliche Stimmung lag über Éngin-Doloh. Das Abendlicht fiel weich auf die Stadt.

Mein Geist fühlte sich frei. Ich genoss den Moment, ohne an das Gestern oder Morgen zu denken.

Die Veranstaltung war beinahe am Ende angelangt, als das fast schon vertraute, tiefe Grollen auftauchte. Sekunden später schwankte der Boden, dieses Mal vehementer als die Male davor. Ich wollte den Platz verlassen, stand auf und fiel prompt auf die Knie.

Ähnlich ging es den Menschen um mich herum. Sie wirkten eher verwirrt, als dass sie verängstigt waren. Die Bäume wankten leicht, ebenso die Häuser mit ihren Säulen, die das Areal umgaben.

Es kam mir surreal vor. Mein gesamtes Leben vor diesem Augenblick erschien mir mit einem Mal wie ein unwirklicher Traum.

Ebenso unerwartet, wie es begonnen hatte, endete das kurze Beben.

Stille lag für einige lang erscheinende Sekunden über uns wie eine Käseglocke. Danach begannen alle, aufgeregt durcheinanderzureden. Die Menschen scharten sich zusammen, riefen ihre Lieben bei Namen, umarmten sich und eilten von dannen, viele vermutlich voller Sorge um ihre Kinder, die nicht hier bei uns waren.

Ich selbst haderte kurz mit mir und entschied mich sodann, nicht ins Grésto-Haus, sondern zu Hédrian zurückzulaufen, um nach seinem und Mániërontés Befinden zu sehen.

Unterwegs blickte ich mich um. Die Gebäude hatten keinen Schaden genommen, zumindest nicht von außen. Auch alle Bäume standen noch. Regale mit Waren hingegen sah ich teilweise umgestürzt. Die Besitzer und viele Helfer hatten schon begonnen, die Gegenstände wieder zu ordnen.

Insgesamt schien Éngin-Doloh mit einem Schrecken davon gekommen zu sein, auch wenn die Menschen, die ich sah, momentan auffallend planlos und teilweise umherirrend wirkten.

Als ich Hédrians Häuschen erreichte, kam mir Mániëronté entgegen.

„Ach, ich bin froh, dass du da bist!", rief sie. „Uns geht es beiden gut, doch ich muss sehen, ob andere Menschen meine Hilfe brauchen!"

„Ich bleibe bei Hédrian. Geh nur!", ermutigte ich sie.

Sie dankte mir herzlich, die Dankesworte untermalt mit ihrem sonnenhellen Lächeln, und griff ihren Tornister. Flinken Schrittes trabte sie die angrenzende Gasse entlang und verschwand.

Kántarellas LichtgestaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt