Zerrissenheit

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Médancon kehrte fürs Erste zu uns ins Fischerhaus zurück. Er ertrug das Alleinsein mit der Ungewissheit nicht, insbesondere nicht in Mániërontés Haus, wo ihn jeder Gegenstand an sie erinnerte.

Álkaran begrüßte die Entscheidung, zumal er selbst mit seiner Überredungskunst maßgeblich dazu beigetragen hatte, da auch er seinen Bruder lieber in Gesellschaft wusste, vor allem am Abend und während der Nacht.

Ich war einerseits seltsam glücklich, Médancon häufig so nahe bei mir zu sehen, andererseits fühlte ich mich in seiner Gegenwart befangen, da mein Körper auf seine Nähe jedes Mal wieder mit einem kleinen inneren Sturm antwortete. Dass er voller Trauer und Zerrissenheit war, machte die Umstände für mich nicht leichter.

Médancons Neigung zum Grübeln verstärkte sich. Er vernachlässigte seine Arbeit und tat nur das Nötigste. Ich wusste, dass er oft stundenlang in der Nähe der einsamen grésto'schen Laube zubrachte und einfach vor sich hinstarrte.

Zum Essen mussten wir ihn beinahe zwingen. Mir brach fast das Herz, ihn so elend zu sehen, und ich spürte, dass es Álkaran genauso ging.

Aën-Sangaa blieben wir fern, da uns allen nicht nach Musik und Zerstreuung oder gar einer Lobpreisung an die Gottheiten zumute war.

Es traf keinerlei Kunde zu Mániëronté bei Grésto ein, auch wenn der Aufruf anlässlich von Aën-Sangaa regelmäßig wiederholt wurde.

Die Erde bebte immer wieder, jetzt manchmal stärker.

In meiner derzeitigen niedergeschlagenen Verfassung machte mir das besonders Angst.

***

Es war ein lauer Abend im späten Frühling, als ich meine Aufgaben, mittlerweile bei den Spielzeugmachern, beendet hatte.

Am frühen Nachmittag hatte ein kurzes, aber verhältnismäßig schweres Beben die Menschen erschreckt. Die Häuser hatten bedenklich geschwankt, und niemand hatte sich mehr in der Phase der Erdstöße auf den Beinen halten können. Größere Schäden waren nicht entstanden, doch allgemein machte sich Sorge um diese Vorgänge breit.

Ich vernahm, dass im Dschungel Bäume umgestürzt und dadurch teilweise Wege blockiert waren. Die Erinnerung an die Erzählung, wie Hédrians Familie ums Leben gekommen war, schob sich unangenehm in mein Bewusstsein.

Ausgerechnet heute musste Álkaran einer Zusammenkunft der Fischer beiwohnen und würde sehr spät nach Hause kommen.

Ich entschloss mich, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen, um mich zu zerstreuen, da mich das Erdbeben in Sorge versetzt hatte, und schlenderte ziellos durch die Straßen. Irgendwie kam ich auf meinem Weg beim Grésto-Haus heraus und ging spontan um das Gebäude herum in den Garten, falls Médancon dort war.

Schon von weitem sah ich ihn in der Nähe der Laube. Er saß auf dem frühlingswarmen Boden und hatte seinen Rücken an den Stamm eines gewaltigen Nadelbaums gelehnt. Als er mich gewahrte, lächelte er müde.

Er war in den letzten Wochen sichtlich abgemagert. Sein Gesicht war jetzt hager, und seine hohen Wangenknochen standen prominent hervor. Seine bloßen Arme waren dünn und sehnig geworden.

Falls es möglich war, liebte ihn in diesem Augenblick noch viel mehr und hätte alles gegeben, um ihn wieder froh zu sehen. Ein Kloßgefühl formte sich in meinem Hals. Ich rang mit mir, damit meine Miene mein Leid um ihn nicht zeigte.

„Der Baum vermag mir etwas Ruhe zu geben", sagte er anstatt einer Begrüßung. Seine Stimme klang rau.

Um meine Betroffenheit zu verbergen, erwiderte ich nichts und setzte mich einfach neben ihn. Die grobe Borke der Rinde drückte sich an meinen Rücken, als auch ich mich anlehnte. Ein überwältigender Geruch nach Harz umhüllte mich. Ich glaubte, die Aura des Baums zu fühlen, der, meiner Schätzung nach, mehrere hundert Jahre alt war.

Kántarellas LichtgestaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt