Viviane II

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Ich bin mitten in meinem zweiten Semester. Ein strahlender Tag Ende Juni liegt über Erfurt. An diesem Wochenende findet das Krämerbrückenfest statt.

Jocelin, meine WG-Mitbewohnerin, hat mich überzeugt, dass ich unbedingt mitkommen muss. Sie ist eine lustige Person mit blitzenden dunklen Augen, dunklen Locken und einem ansteckenden Lachen. Und sie kennt sich in Erfurt bestens aus.

Am frühen Nachmittag traben wir durch die Andreasstraße auf den Domplatz zu. Der Duft der allgegenwärtigen Thüringer Bratwurst wabert uns entgegen. Neben uns surrt die Straßenbahn vorbei und bimmelt laut. Einige unachtsame Fußgänger springen aus dem Weg.

Jocelin macht ein paar fröhliche Selfies von uns beiden für ihren Instagram-Account. Ich grinse brav in die Kamera, nehme aber all das nur am Rande wahr, denn ich hänge mit meinen Gedanken etwas nach.

Da Jocelin die Fotos gleich bearbeitet und hochlädt, bemerkt sie meine Unlust zum Plaudern nicht.

Vor einigen Tagen habe ich den Reisebericht von Karin noch einmal gelesen. Eventuell sollte ich ihn abtippen, damit die Lektüre einfacher wird? Vielleicht sollte ich ihn danach sogar online stellen? Ich finde, es ist eine total krasse Geschichte.

Schon seit dem Tag in Godesberg, als ich den Bericht zum ersten Mal gelesen habe, bin ich am Rätseln, ob jenes Land ein Rest von dem sagenumwobenen Atlantis war? Und ob Karin damals mit Álkaran womöglich, ohne es zu wissen, in den Überresten eines Raumschiffs gestanden hat?

Ich werde es nie erfahren.

Auf jeden Fall ist die Erzählung zu verrückt, dass sie sich jemand vor über hundert Jahren einfach so ausgedacht haben kann!

Dazu kommt diese irre Liebesgeschichte.

Beim Lesen glaube ich, ich kann nachvollziehen, wie es Karin ging, kann ihre verzehrende Leidenschaft für den einen Bruder und die tiefe Liebe für den anderen fast selber fühlen.

Wie kann eine solche Liebe einfach so sterben?

„Komm, Viviane, da drüben gibt's die besten Bratwürste!" Jocelin reißt mich aus meiner Grübelei.

Ich bin ihr dankbar dafür.

Sie läuft mir voran ins Gewühl, ich hinterher.

„Thüringer Grillteufel" prangt in roten Lettern auf einem Schild. Wir ergattern an dem dicht belagerten Stand unsere Würstchen.

Das frische Brötchen mit der darin eingeklemmten Wurst in der Hand haltend, bin ich am Umdrehen, um den Stand zu verlassen. Dabei tropft mir etwas auf die Schulter. Ein dicker Senftropfen, gelb und fett, prangt mitten auf meinem schwarzen Lieblingsshirt.

„Wow, I'm really sorry!", ruft eine junge Männerstimme mit britischem Akzent hinter mir.

Ich drehe mich um und schaue in fröhliche, braungrüne Augen unter dichten Brauen. Ein athletischer Kerl in einem rosafarbenen Muskelshirt mit der Aufschrift „Mumbai Athletic Champs", die braunen Haare zu einer Igelfrisur geschnitten, steht mir gegenüber und hält peinlich berührt sein Brötchen mit einem senftriefenden Rostbrätel hoch.

„Wait, my brother's got a napkin!", sagt er zu mir.

Sein versöhnliches Lächeln stimmt mich milde.

Hinter ihm taucht ein zweiter Mann auf, dieser im engen, dunklen T-Shirt, schlank und ebenfalls sehr sportlich. Er reicht mir ein Papiertuch.

Dabei grinst er mich verschmitzt an und offenbart tiefe Grübchen in den Wangen. Sein Haar ist hellbraun und gewellt, und er trägt es zu einem kleinen Pferdeschwanz gebunden.

Sein Gesicht fasziniert mich. Es ist feingeschnitten, und er hat hohe Wangenknochen. Er schaut mich direkt an.

Seine Augen sind blau wie Kornblumen.

Kántarellas LichtgestaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt