Schattenseiten

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In den nächsten Tagen räumten wir das Haus leer und verteilten Hédrians Habe. Mániëronté nahm vieles an sich, da sie in den Gegenständen eine Menge Erinnerungen wusste.

Ich trauerte sehr um Hédrian, doch allmählich kehrte der Alltag zurück, und Álkarans Trost und Nähe sowie die täglichen Arbeiten halfen mir langsam über den Verlust hinweg.

Meine Aufgaben wechselten wieder einmal. Jetzt sollte ich mich im Kinderhaus an der Sorge um verwaiste Kinder beteiligen. Diese Kinder aller Altersstufen hatten keine Eltern und keine Familie, bei denen sie wohnen konnten.

Sie wuchsen fast genauso auf wie alle anderen Kinder aus Cóno-Aleea, wurden gemeinsam mit ihnen unterrichtet und fanden so in ihre künftigen Aufgaben hinein. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass sie Kost und Kleidung sowie benötigtes Gerät durch die Betreuenden des Kinderhauses erhielten und dort schliefen.

Die Menschen, die sich um die derzeit neun Kinder kümmerten, wechselten sich regelmäßig in Schichten ab. Es waren immer mindestens zwei Erwachsene anwesend, da es auch zwei Säuglinge zu betreuen galt, die zwei und fünf Monate alt waren. Mitunter konnten allein diese beiden Winzlinge eine Person komplett beschäftigen.

Ich half bei der Versorgung der Kleinsten mit, fütterte und wickelte, trug und wiegte sie. Der Rest meiner Aufgaben bestand größtenteils aus Hauswirtschaft.

Wie entsetzt aber war ich, als ich erfuhr, dass die Säuglinge vor der Tür des Kinderhauses gefunden worden waren.

Verstoßene Kinder!

Das war die erste wirkliche Schattenseite, die ich in Cóno-Aleea erfuhr.

***

Die Zeit ging ins Land. Die Tage wurden länger, der Regen versiegte. Die Erde bebte in diesen Tagen ab und an, doch nur mild, und wir gewöhnten uns wieder daran.

Ich genoss die freien Tage. Álkaran fuhr oft mit mir hinaus und begann, mich in der Kunst des Segelns zu unterrichten. Ich hatte daran große Freude.

Mein altes Leben in Deutschland verblasste zusehends.

Ich fühlte mich hier trotz der vielen Arbeit so frei, wie ich es in meinem früheren Leben niemals hätte sein können.

Eines Abends, als wir recht spät von unserem Ausflug aufs Meer zurückkehrten, fanden wir Médancon auf unserer Schwelle vor. Er hatte auf uns gewartet.

Sein Kopf war auf die Brust gesunken. Sobald er uns hörte, schreckte er hoch.

„Ist etwas passiert?" Álkaran eilte seinem Bruder entgegen, als er dessen Miene sah.

Médancon schien völlig aufgelöst. Auch ich erschrak, denn sein Gesicht war bleich, und er hatte tiefe Augenringe. Seine Kleidung und sein Haar waren in Unordnung. Er schaute aus, als ob er überhaupt nicht geschlafen hatte.

„Ich weiß nicht mehr weiter!", rief er verzweifelt. „Mániëronté ist verschwunden!"

Wie bitte?

Wir traten gemeinsam ins Haus. Álkaran reichte seinem Bruder einen frischen Trunk, den dieser durstig in einem Zug leerte. Auf unsere Fragen erfuhren wir, dass Mániëronté am Vortag zu einer Heilbehandlung zu einer Wohnstatt etwas außerhalb der Stadt gerufen worden war. Sie war abends nicht nach Hause zurückgekehrt.

Médancon war noch in der Nacht zuerst bei Meisterin Ýdrané gewesen, um zu erfragen, wohin Mániëronté entsandt worden war. Dann hatte er das fragliche Haus aufgesucht, wo man ihm versicherte, dass sie da gewesen sei, sich jedoch schon längst auf den Rückweg gemacht habe. Der Weg dahin war breit und einfach zu begehen.

Kántarellas LichtgestaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt