Geschichten

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Nachdem Petersen Hédrian mich in die Obhut einer fröhlichen, jungen Frau gegeben hatte, die unbeirrt munter auf mich einschwatzte, obwohl ich kein Wort verstand, wurde ich in ein tagestaugliches Gewand gehüllt.

Ähnlich den Umhängen der Frauen, die ich bereits gesehen hatte, und dem der Frau, die sich um mich kümmerte, war das taubengraue, leichte Kleidungsstück knöchellang. Es wurde mit einem weichen, geflochtenen Gurt an der Taille gehalten. Ein helleres Untergewand bedeckte meine Arme bis zum Ellbogen. Auch Ledersandalen gehörten zur Ausstattung, die bis zur Mitte der Wade mit langen Riemen geschnürt wurden. Sie saßen so leicht und bequem am Fuß, dass ich fast das Gefühl hatte, weiterhin barfuß zu gehen. Meine Haare wurden geflochten und mit einem Band zurückgebunden.

Nun war ich offenbar für den Tag gerüstet, denn ich durfte wieder die Treppe hinabsteigen und auf einem Polsterhocker im Garten Platz nehmen. Ein niedriger Tisch stand davor. Auf einem weiteren Stuhl kniete Petersen Hédrian und wies mit einladender Geste zu den Speisen, die auf dem Tisch standen.

Ich hatte nun etwas mehr Muße, ihn zu betrachten. Sein Gesicht war hager mit einer langen, schmalen Nase, und er hatte viele tiefe Falten. Die meisten stammten offensichtlich vom Lachen, doch es waren auch einige Falten dabei, die von Trauer sprachen. Unter seinen buschigen, weißen Augenbrauen leuchteten klare Augen in kornblumenblauer Farbe. Sowohl das lange Haar als auch der Bart waren ordentlich gekämmt und mit dünnen Lederbändern mehrfach in verschiedenen Abteilungen übereinander zusammengebunden.

Seine Tunika bestand aus fließendem, dunkelblauem Stoff.

Er balancierte einen der Teller aus Flechtwerk auf dem Schoß und war bereits genüsslich am Essen. Da ich hungrig war, tat ich es ihm gerne gleich. Ich erkannte die Knollen, die ich schon im Dorf verzehrt hatte, dazu gab es einen mit Honig gesüßten Brei, etwas Obst – auch von den herrlichen Datteln – und ein Gemisch aus Wasser und Saft. Wir aßen mit den Fingern und einem angespitzten Holzstäbchen.

Ich konnte meine Neugierde nicht mehr länger zügeln. „Möchten Sie mir denn verraten, in welchem Land wir sind?"

„Oh, ich hatte befürchtet, dass Sie das zuerst fragen", antwortete Petersen Hédrian. Zwar lächelte er, gleichwohl wirkte er etwas traurig. „Sie sind in Cóno-Aleea. Natürlich kennen Sie Cóno-Aleea nicht. Dieses Eiland ist der restlichen Welt völlig unbekannt, jedenfalls bis jetzt. Wir führen ein friedliches Leben, und jeder gibt, was er kann, und nimmt, was er braucht. Wir Menschen hier kennen keine Gier und keinen Neid. Neben unserer Insel existiert weithin nichts als Wasser. Selbst wenn wir eine lange Strecke mit unseren Booten aufs Meer fahren, erreichen wir kein anderes Land. Ich vermute, unser Eiland liegt fernab der Routen der Handelsschifffahrt."

Meine Stimmung sank mit seinen Worten, denn dies konnte nur bedeuten, dass ich nicht nach Hause zurückkehren konnte. Ich war also auf einer Insel gestrandet, welche für die restliche Welt unbekannt war. Ich legte meinen Teller auf den Tisch und griff nach einem feuchten Tuch, um meine Hände zu reinigen. Mein Appetit war mit einem Schlag vergangen.

Ein anderer Gedanke fuhr mir durch den Kopf. „Wenn niemand dieses Land kennt, wie kommt es dann, dass ich Sie verstehen kann?", fragte ich.

Er lächelte erneut. „Sie sind schiffbrüchig, nicht wahr? So erging es meinem Urgroßvater ebenfalls. Er hat es trotz aller Bestrebungen nie geschafft, Cóno-Aleea wieder zu verlassen, obgleich er ein wenig mit den Prinzipien der Meeresschifffahrt vertraut war. Möchten Sie seine Geschichte hören?"

Ich nickte, denn es interessierte mich. Und ich hatte ohnehin keine andere Aufgabe.

„Mein Urgroßvater nannte sich Hans Petersen. Er stammte aus einem Land, das vollkommen anders als dieses hier war. Es hieß Holstein."

Kántarellas LichtgestaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt