-Selbstverständlichkeiten-

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Mittwoch, 23. Februar 2022, 12:19 Berlin Friedrichstraße

Der Alltag der Menschen ist schneller geworden - schneller als noch vor dreißig Jahren, als die Kommunikationswege noch länger und die Erwartungen an die eigene Erreichbarkeit kleiner waren. Die Menschen, die an diesem Mittwoch in Massen über die Berliner Friedrichstraße liefen, verkörperten diese Schnelllebigkeit unteranderem dann, wenn sie, gebeugt über ihr Handy, beinahe die rote Ampel übersahen, weil sie noch schnell die letzte, wichtige Nachricht des Arbeitskollegen beantworten wollten. 

Geschahen deswegen Unfälle? Durchaus! Jeder fünfte Unfall ging auf die Ablenkung durch das Smartphone zurück. Änderte sich deswegen etwas am Umgang der Menschen mit ihrer Zeit? Mitnichten, denn das digitale Zeitalter hatte die Menschheit längst im Würgegriff, was das Atmen angesichts der ständig auf sie einprasselnden Informationsflut immer schwerer fallen ließ. Dass der Mensch darin nicht ertrank, lag vermutlich daran, dass es zuverlässige Konstanten gab, an denen er sich festklammern konnte - Grundpfeiler des Lebens, die unumstößlich für ihn waren. Frieden bedeutete für den stressgeplagten Bürger vor allem die freitägliche Ruhe vor den alltäglichen Widrigkeiten, Freiheit meinte die Gestaltungshoheit über das eigene Wochenende und Demokratie war das notwendige Übel - die zähe Masse, die wichtige politische Entscheidungen ausbremste und so gar nicht in das Konzept der neuen, schnellen Welt zu passen schien. Trotzdem waren es diese Prinzipien, die die Menschen über Wasser hielten und sie antizipieren ließen an der Schönheit des Lebens - einer Schönheit, die sich im Angesicht des Kreisens um die eigene Bedeutungslosigkeit in der Selbstverständlichkeit verlor. 

Dass Robert an diesem Tag mit einem weitaus weniger guten Gefühl durch die Straßen Berlins fuhr, lag an der sich immer weiter zuspitzenden politischen Lage mit Russland. Er hatte schon seit geraumer Zeit das Gefühl, dass der russische Präsident mit ihnen Poker spielte, ein Spiel, bei dem er bei der Kommunikation mit der Bundesregierung die Kunst der Täuschung so professionell beherrschte, dass sich seine Mitspieler*innen in Sicherheit glaubten. Olaf Scholz wurde in diesem Kontext nicht zuletzt von der sonst so kritischen Tagespresse für sein diplomatisches Talent gelobt. Was in dieser Situation des Gesprächs mit Putin gezählt hat, war das klare Signal des Westens deutlich zu machen, dass wir bereit blieben, einen Konflikt, den wir nicht ausgelöst hatten, im Dialog zu lösen. Dass dieser Dialog aber auch eine Finte sein konnte, wagte niemand auszusprechen, denn dann wären all die Selbstverständlichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens plötzlich keine mehr. 

Er war auf dem Weg zu einer Sondersitzung der regierenden Minister als plötzlich sein Telefon klingelte. Hektisch begann er sein Handy in seinem Jackett zu suchen, das er nach dem Einsteigen ins Auto unachtsam neben sich auf die Rückbank fallen gelassen hatte. Er hasste die Kleiderordnung, die ihn dazu zwang, Jeans gegen Anzugshose und Pulli gegen Hemd zu tauschen. Aber als Minister musste er diese bittere Pille wohl schlucken. Als er das nervige Ding endlich fand, sah er, dass  Annalena am anderen Ende der Leitung war und ging eilig dran: "Hey Annalena, was gibt's? Ich bin bereits auf dem Weg zu euch!" Am anderen Ende der Leitung vernahm er ihre leise Stimme, was ihn dazu veranlasste sein Handy noch näher an sein rechtes Ohr zu drücken. "Hey! Das ist gut, ich wollte dich nur fragen, ob du nach der Sitzung noch einen Moment für mich hast? Ich würde gerne etwas mit dir unter vier Augen besprechen!" Robert stutzte, würden sie sich doch am späten Abend sowieso noch sehen. Aber es lag etwas Merkwürdiges in ihrer Stimme, das ihm die Dringlichkeit des Gesprächs vor Augen führte, also entschied er sich dafür, die Zeit aufzubringen: "Ja, das ist kein Problem! Ich muss erst gegen 18.00 Uhr ins Studio, das dürfte gerade so passen!" Er guckte auf seine Armbanduhr. "Okay, gut! Wir treffen uns dann im Sitzungssaal, bis gleich!", antwortete sie bestimmt und legte schließlich auf. Robert merkte, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmte. Er widerstand jedoch dem Impuls sie noch einmal anzurufen und sie danach zu fragen, denn er fühlte, dass gerade nicht der richtige Moment dafür war. Robert ließ sein Handy wieder in die Tasche seines Jacketts gleiten und schloss für einen Moment die Augen, um seinen Gedanken über die Verletzlichkeit der Welt nachzuhängen. 

Mittwoch, 23. Februar 2022, 12:24 Deutscher Bundestag

Unterdessen nahm Annalena wie fremdgesteuert das Handy vom Ohr und legte es vor sich auf den Tisch des noch leeren Sitzungssaales ab. Das Geräusch, das bei dem Kontakt des Handys mit der Tischplatte entstand, hielt allerdings länger an als sie es gewohnt war. Es dauerte ewig! 

Und in diesem Moment erkannte sie wie die Zeit sich inmitten der sich überschlagenden Ereignisse plötzlich verlangsamte. Sie setzte sich gedankenverloren auf einen Stuhl und blickte wie in Trance aus dem Fenster in die absolute Aussichtslosigkeit.  

Another World (Annalena-Robert-Fanfic)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt