-Schockstarre-

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Anmerkung der Autorin: Meine lieben Leserinnen und Leser, dieses Kapitel ist etwas düster und geht dem ein oder anderen, der emotional belastet ist, möglicherweise nahe. 

Das menschliche Dasein war nie frei von Schicksalsschlägen, sie gehören unweigerlich zum Leben dazu und bringen uns, sobald sie in unseren Kosmos einschlagen, zum sofortigen Innehalten des Geistes. Es gibt Lebensereignisse, die so verändernd, manchmal sogar so zerstörerisch wirken, dass der Mensch sie nicht aus eigener Kraft überwinden kann. Ein schwerer Unfall, eine furchtbare Krankheit, Verlust oder Gewalt können das individuelle Schmerzempfinden an die Grenze des Aushaltbaren bringen. Doch was geschieht, wenn ein Ereignis so einschneidend und allumfassend ist, dass sich plötzlich eine kollektive Seele bis auf die Grundfesten erschüttert sieht? Was passiert, wenn die Realität, von der eine ganze Gesellschaft glaubte, sie sei die einzig Wahre, nicht mehr als solche bestehen bleiben kann, weil sie nicht mehr gültig ist?

In diesem Fragenkarussell befand sich Annalena als sie, allein im Sitzungsaal aus dem Fenster starrend, bewegungsunfähig an dem großen, ovalen Holztisch im Bundestag saß. Sie wusste, dass das Warten auf Antworten zwecklos war, doch sie konnte in dem Moment der Schockstarre nichts anderes tun. Die Frau, die einer ganzen Gesellschaft gezeigt hatte, was man mit Energie und Tatendrang alles erreichen konnte, war gefangen in dem Gedanken, dass es keine objektiv gegebene äußere Wirklichkeit mehr gab, in der es sich frei bewegen ließ. 

Sie atmete tief durch als sie die Schritte auf dem Parkett des Flures vernahm, von denen sie wusste, dass ihr Weg sie direkt zu ihr führen würden. Sie fühlte sich zwar immer noch nicht bereit für diese Sitzung, aber die Luft, die durch ihren Körper strömte, sorgte zumindest dafür, dass sie sich wieder aus ihrer Schockstarre befreien konnte. Kurz darauf ging die Tür auf und Lindner, Scholz, Lambrecht und weitere Regierungsmitglieder betraten den Raum und versammelten sich recht schnell an dem großen Tisch. Es war angesichts der politischen Situation keine Zeit für einen ausgedehnten Small-Talk vor der Sitzung. Das spürte Annalena an der beklommenen Stille, die sich im Raum breit machte. Mittlerweile waren alle Stühle besetzt, außer der links neben ihr. Roberts Platz. Aber kurz bevor sich jemand nach ihm erkundigen konnte, ging die Tür auf und er murmelte ein gehetztes "Entschuldigung" in die Runde, bevor er sich neben Annalena niederließ. Während Olaf Scholz die bekannten Begrüßungsphrasen abspulte, nutzte Robert den Moment, ihr ein sanftes Lächeln entgegenzubringen, das sie gern erwiderte. Er beugte sich kurz zu ihr rüber und flüsterte: "Hey! Sorry, wir standen noch im Stau! Geht's dir gut?" Annalena wusste, dass seine Frage ernst gemeint und keine Floskel war, also antwortete sie ihm ehrlich: "Es ist gerade nicht gut, wir reden aber gleich in Ruhe, okay?" Sie lächelte ihm noch einmal zu, um ihn nicht allzu sehr zu beunruhigen und setzte sich anschließend wieder aufrecht hin, um den Worten Olaf Scholz' zu horchen und für einen Moment die dunklen Gedanken der letzten Stunde in der hintersten Ecke ihres Gehirns zu verstecken. 

Dass dieses Vorhaben scheitern musste, hätte ihr allerdings vorher klar sein können. Die Sitzung drehte sich selbstverständlich um den Konflikt mit Putin, der nach Olaf Scholz jedoch erst einmal eingedämmt schien. Das ukrainische Verteidigungsministerium und zwei der bedeutendsten Banken des Landes erlebten zwar gerade einen Cyberangriff, aber die gute Nachricht sei, dass ein militärischer Einmarsch Russlands in die Ukraine erstmal vom Tisch sei. Dafür habe Putin allzu deutlich seinen Willen zum Dialog bekundet. Scholz fügte jedoch in einem Nebensatz hinzu: "Trotzdem sollten wir wachsam sein!" Doch wenn Fortschritt eine Schnecke ist, ist Frieden mit Russland das Labyrinth, in dem sie lebt, dachte Annalena ironisch und bezog sich dabei auf die drei vorgelegten Gesetzesvorlagen, die er längst unter den Verpflichtungen des Minsk-Prozesses hätte liefern müssen. Dass nicht jeder der Anwesenden so positiv in die Zukunft sah wie Scholz, merkte man daran, wie viel Gegenwind er für seine Äußerung bekam. Lindner forderte einen konkreten Stufenplan im Falle des Falles und Robert bekundete sah nicht nur die Gas-Pipeline Nord Stream 2 kritisch, er plädierte auch für knallharte Wirtschafts-Sanktionen gegen Russland und pflichtete Christian damit ausnahmsweise zu. 

Die Ergebnisse der Sitzung blieben wage und das nicht zuletzt, weil die Bundeswehr in ihrem desolaten Zustand nicht Gegenstand der Verhandlungen wurde. Annalena war unendlich enttäuscht und wütend, doch bevor sich dieses Gefühl in ihrem Körper manifestieren konnte, riss Robert sie aus ihren Gedanken: "Wollen wir eine Runde drehen?", er schaute kurz auf seine Armbanduhr, "Ich habe noch 30 Minuten bis ich zur Sendung muss!" Annalena nickte ihm zustimmend zu, etwas frische Luft würde ihnen gut tun. Außerdem musste nicht jeder sehen, was sie ihm gleich zu berichten hätte. 

17:32,  Platz der Republik, Berlin 

Sie schlenderten eine Weile wortlos nebeneinander her und genossen die frische Luft, die ihnen in der letzten Zeit viel zu selten zu Gute kam. Robert erwartete jeden Moment, dass Annalena das Wort ergriff, doch als er zu ihr rüber sah, schaute sie nur bekommen auf den Rasen vor ihr. Daraufhin entschloss er sich nun doch die Initiative zu ergreifen und sprach sie an: "Du wolltest etwas mit mir besprechen, Annalena und ich hatte den Eindruck, als könne es nicht bis heute Abend warten!" Er sah, wie sie langsam ihren Kopf zu ihm drehte und zum ersten Mal sah er das blanke Entsetzen in ihrem Gesicht. Besorgt fragte er noch einmal nach: "Was ist los? Du weißt doch was, oder?" Annalena fasste ihn daraufhin am Ellbogen und bewog ihm damit stehenzubleiben. Ihr Gesicht sah fahl aus: "D-du hast Recht. Es kann nicht warten, bist du Zuhause bist!", Annalena stockte, "Ich habe heute Nachmittag einen Brief bekommen. Streng geheim! Er wird gerade noch geprüft, aber...", sie bracht wieder ab. Roberts Augen weiteten sich indessen und er ahnte Schlimmes: "Bitte sag nicht, dass Putin...", er wagte es nicht seinen Satz zu beenden. "Putin wird angreifen und das nicht nur die Separatistengebiete!", erklärte Annalena. Sie reichte ihm die Kopie des Briefes. 

In dem Moment als Robert die Zeilen las, geriet die Welt für ihn endgültig aus den Fugen. Er sah Annalena entsetzt an und gab seinem ersten Impuls nach und zog sie in aller Öffentlichkeit in eine lebensspendende Umarmung. 

Another World (Annalena-Robert-Fanfic)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt