-Grenzerfahrungen-

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Berlin, Finanzministerium, 28. Februar 2022, 10:23

"Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, Christian!", wütete ein fassungsloser Robert Habeck vor sich hin, als er Christian Lindner die druckfrische Berliner Zeitung mit Wucht auf seinen Schreibtisch warf, "Was willst du damit bezwecken? Oder bist du wirklich so naiv zu glauben, dass wir innerhalb eines dreiviertel Jahres unabhängig von russischen Gas-Lieferungen sein können?" Robert blieb in seiner wütenden Verfassung vor Christian Lindners Schreibtisch stehen und bemühte sich mit jedem bewusst herbeigeführten Atemzug nicht auf der Stelle auszurasten. Lindner, der von Roberts cholerischen Ausbrüchen bereits gehört hatte, blieb währenddessen ruhig auf seinem edlen Schreibtischstuhl sitzen und schmunzelte beiläufig vor sich hin: "Mensch, Robert! Hast du immer noch nicht verstanden, dass man als Politiker die Stimmung der Leute auffangen muss? - Dass man sie in ihren Wünschen und Sehnsüchten ernst nehmen sollte? Der Gas-Stopp ist genau das, was die Bevölkerung gerade fordert und wer bin ich, dass ich dem Volk widerspreche? " Robert schnaufte. Er konnte nicht fassen, wie kurzfristig dieser Mann zu denken schien: "Das ist doch wieder ein reiner Ego-Trip eines FDP-Politikers! Merkst du nicht, dass ein Krieg in Europa möglicherweise nicht den richtigen Kontext dafür darstellt?" Wieder grinste Christian Robert an: "Ist das nicht eine verkehrte Welt? Ein grüner Politiker sagt mir gerade, dass wir weiterhin auf klimaschädliches Öl und Gas von Gasprom setzen sollen, obwohl gerade jetzt die Chance für eine grüne Energiewende gekommen ist?" Er lachte jetzt so laut, sodass Robert sich sicher war, dass sein Assistent es im Nebenzimmer hören konnte. "Du weißt aber schon, dass Deutschlands Energieversorgung in weiten Teilen abhängig von Russland ist. Außerdem sind die deutschen Gasspeicher durch den bestimmt rein zufälligen Preisanstieg im letzten Sommer systematisch entleert worden, Christian, bei aller Bemühungen um die erneuerbaren Energien, das können wir nicht schaffen und dein Statement suggeriert der Bevölkerung, dass wir von jetzt auf gleich die Fehler der letzten Jahrzehnte ausbügeln können! Das funktioniert einfach nicht!" Christian schaukelte während Roberts Monolog in seinem Chefsessel hin und her und vermittelte ihm damit ein klares Desinteresse an seinen Worten. Stattdessen wechselte er lieber das Thema: "Du siehst angespannt aus, du solltest dich von deiner Frau mal wieder verwöhnen lassen!" Er war gespannt auf Roberts Reaktion, doch dieser merkte sofort, dass Christian ihn nur provozieren wollte. "Was? gehen dir die Argumente aus oder warum musst du meine Frau ins Spiel bringen?", konterte er grinsend. Christian lächelte ihn daraufhin amüsiert, aber mit einem Quäntchen Überheblichkeit an, sodass Robert befürchtete, dass dieser einen Trumpf im Ärmel hatte. Christian nahm währenddessen sein Handy in die Hand und wischte ein paar Mal auf dem Display herum. "Ah ja, da ist es ja!", freute er sich und zitierte anschließend aus einem Artikel der Flensburger Zeitung, "Frau Paluch, wie erleben Sie und Ihr Mann diese Tage im Angesicht des Ukraine-Krieges? Ich erlebe eine Zeit der Erschütterung vieler Grundpfeiler unseres Zusammenlebens, die ich bis vor kurzem noch für unumstößlich gehalten habe, allerdings weiß man, wenn man die Natur des Menschen kennt, dass nichts unumstößlich ist. Wir müssen uns vielleicht eingestehen, dass wir in einer Blase gelebt haben, die jetzt geplatzt ist. Und Ihr Mann?", Christian verfiel im Vorlesen in eine gespielte Theatralik, die Robert beinahe zur Weißglut brachte, doch er fuhr fort: "Mein Mann liegt im Moment außerhalb meines Einflussbereiches. Wir sehen uns nicht mehr regelmäßig, also kann ich Ihnen dazu nichts sagen! Ka- BOOOM!", fügte Christian noch hinzu und erhob dabei die Stimme dermaßen, dass es unangenehm war. Robert versuchte in diesem Moment der Verwirrung gleichzeitig die Fassung zu wahren und die Informationen darüber zu verarbeiten, dass Andrea gerade einem Reporter erzählt hatte, dass sie getrennt waren - und das inmitten einer globalen Krise! Während er versuchte zu überlegen, was strategisch gesehen die nächsten Schritte waren, wurde er von Christian unterbrochen: "Hat sie Schluss gemacht oder du?" Robert nahm seine indiskrete Frage zum Anlass, sein Büro zu verlassen und so schnell wie möglich Annalena anzurufen.

Przemysl (Polen: Kurz vor der Grenze zur Ukraine), 11:23

Annalena beendete gerade ein Gespräch mit den Organisatoren der Geflüchtetenaufnahme, als ihr Handy sie aus den bedrückenden Gedanken dieses Tages riss. 'Robert' stand in dicken Lettern auf dem Display und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Schnell eilte sie an einen ruhigeren Platz und nahm den Anruf entgegen, als sie sicher war, dass niemand außer der Security sie im Blick hatte. "Hey! Schön, dass du dich meldest! Wie ist die Lage in Berlin?", fragte sie interessiert. "Hey! Wie geht es dir? Seid ihr sicher in Przemysl? Wie verhält es sich mit der Organisation vor Ort?" Sie vernahm Roberts Stimme und ihre Freude verschwand, als sie merkte, dass ihn irgendwas bedrückte. Trotzdem beantwortete sie ihm seine Fragen, im Gegensatz zu ihm. "Es ist...bedrückend hier an der Grenze, die Menschen sind traumatisiert und verängstigt. Ich sehe im Minutentakt, wie Männer sich von ihren Frauen und Kindern verabschieden, um wieder in den Kampf zu ziehen...aber, es ist auch beeindruckend zu sehen, wie sehr sich die Menschen hier um die Geflüchteten kümmern, was sie innerhalb von wenigen Tagen an Infrastruktur errichtet haben. Das gibt Hoffnung! Und ja, wir sind hier im Moment sicher! So sicher wie man sich in diesen Zeiten eben fühlen kann!", fügte sie ergänzend hinzu, "Aber was ist mit dir los? Gibt es wieder irgendwelche schlechten Nachrichten, von denen ich noch nichts weiß?", fragte sie etwas unsicher. Sie wartete einen Moment auf Roberts Antwort, sodass sie schon befürchtete, dass die Leitung unterbrochen wurde, doch dann vernahm sie doch noch seine Stimme: "Andrea hat unsere Trennung publik gemacht", es folgte wieder eine kurze Pause, "Ich bin nicht sicher, ob sie beim nächsten Mal nicht vielleicht auch etwas über uns sagen wird!" Annalena schluckte. 'Hörte das denn niemals auf? Warum musste sie ausgerechnet jetzt ihren Rachezug beginnen?' "Annalena?", höre sie am anderen Ende der Leitung Robert fragen. "Entschuldige, ich bin noch dran! Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, dass es keinen schlechteren Zeitpunkt dafür hätten geben können!" "Naja, immerhin wird ihre Aussage von den ständigen Eilmeldungen überlagert! Vielleicht interessiert es die Leute inmitten dieses Wahnsinns auch nicht!" Annalena überlegte kurz und antwortete schließlich ehrlich: "Du hast Recht, wir können es jetzt sowieso nicht mehr ändern. Lassen wir es einfach auf uns zu kommen und bis dahin konzentrieren wir uns auf unseren Job und...", sie sah sich kurz um, ob auch niemand in Hörweite stand, "auf uns. Ich liebe dich, Robert und daran ändert auch eine öffentliche Meinung über uns nichts!" Sie vernahm einen Seufzer am anderen Ende der Leitung: "So ist es! Ich vermisse dich!"

"Ich dich auch Robert!"

Plötzlich brach die Leitung ab und Annalenas Handy zerschellte auf den harten Pflastersteinen des Bürgersteigs.

Another World (Annalena-Robert-Fanfic)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt