-Die Fassung wahren-

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18:55 Berlin, Regierungsviertel

Er hatte es bereits geahnt. Der Brief, der ihm von Annalena überreicht wurde, beinhaltete nur die endgültige Bestätigung von dem, was er schon bei dem Treffen mit der amerikanischen Handelsministerin erfahren hatte. Alle Vorbereitungen waren abgeschlossen. Ein massiver Landkrieg in Europa stand unmittelbar bevor. Ein diplomatisches Gespräch war nicht mehr möglich. All diese Sätze liefen in Dauerschleife in seinem Kopf ab, doch er konnte sie nicht verstehen. Sein Gehirn verarbeitete diese Information nicht. Er hatte das Gefühl, dass es sich weigerte und seinen Körper vor einer massiven Panikattacke schützen wollte. 

Annalena schien es vorhin nicht anders zu gehen. Sie stand wie versteinert auf der Wiese, die ihr sonst immer die nötige Kraft für den Tag gab. Sie bemühten sich zwar beide die Fassung zu wahren, aber er wusste, dass sich Angst in ihr ausbreitete. Sie sahen sich, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten, lange in die Augen, ohne etwas zu sagen. Aber das war auch nicht nötig. Robert wusste, was sie ihm nonverbal sagen wollte. Ich habe Angst! Ich weiß nicht, was ich machen soll! Er drückte noch einmal fest ihre Hand, um ihr zu signalisieren, dass er sie verstand. Aber ändern konnte er nichts. Ihnen waren zum ersten Mal in ihrer politischen Karriere die Hände gebunden. Was war das noch für eine Stimmung, als sie noch in der Opposition verharrend, lauter frische Ideen für die Zukunft entwickelten, sich stark machten für Erneuerungen und Energiewende. Was waren das noch für Zeiten, in denen sie die Krise als Chance sahen, endlich etwas zu bewegen? Es lag so viel Bewegung in dieser Phase ihres politischen Daseins - Bewegung, die nun gestoppt wurde, ohne dass sie über die Ziellinie laufen konnten. 

Nach einer kurzen Verabschiedung machte sich auf dem Weg zum Aufnahmestudio, um das bereits am Montag verabredete Interview bei Maischberger zu geben, bei dem er zum ersten Mal nicht wusste, was er den Leuten sagen sollte. 

23:01, Berlin, Roberts Wohnung

Er schloss erschöpft die Tür zu seiner Wohnung auf und legte gedankenverloren seine Umhängetasche sowie seinen Mantel über dem Stuhl neben der Garderobe ab. In der Küche angekommen, goss er sich einen Glas Rotwein ein und ließ sich anschließend im Wohnzimmer auf der Couch nieder. Noch bevor er den ersten Schluck nehmen konnte, vernahm er ein Geräusch in der Küche. Kurz darauf kam Annalena ebenfalls mit einem Glas Rotwein in sein Wohnzimmer und setzte sich neben ihn. "Hey!", begrüßte sie ihn sanft und küsste ihn kurz auf den Mund, bevor sie ihren Kopf auf seiner linken Schulter ablegte, "Ich hab das Interview gesehen!" "Hmm!", antworte Robert und bewegte sich, um einen großen Schluck Wein zu nehmen, bevor sie ihr Urteil darüber abgeben würde. "Ich bin ehrlich beeindruckt, wie du in dieser Situation die Fassung gewahrt hast! Du hast klar und deutlich gesagt, was Sache ist, ich halte dich für so stark! Du lügst die Leute nicht an!", erklärte sie und nahm ihn anschließend in den Arm. Robert schloss die Augen und vergrub sein Gesicht schutzsuchend in ihrer Halsbeuge. "Ich war kurz vorm Heulen, Annalena! Das war furchtbar!", klagte er, immer noch fassungslos von der Entwicklung der letzten Stunden. "Shh, ich weiß! Ich weiß doch! Aber die Leute lieben dich für deine Ehrlichkeit und auch deine sensible Seite!", beruhigte sie ihn. Robert löste sich langsam von ihr und  bei der Bewegung lösten sich ein paar Tränen aus seinen Augen. Ihm war dieser Gefühlsausbruch nicht peinlich. Ihre Beziehung zeichnete sich dadurch aus, mit Geschlechterstereotypen zu brechen und einfach nur Mensch zu sein. Trotz der Schwärze der Situation musste er trotzdem kurz lächeln: "Nur die Leute?", er lächelte halb traurig, halb verschmitzt. "Du bist doof!", antwortete sie ihm und zog ihn mit aller Liebe, die sie für ihn hatte, in einen erneuten Kuss. "Hmm, okay! Das war jetzt das beste an diesem verdammten Tag!" Annalena nickte zustimmend und fuhr leise fort: "Wir sollten eine Regierungserklärung vorbereiten. Falls es morgen zum Äußersten kommt, müssen wir Antworten haben." Robert schmunzelte sarkastisch: "Antworten, ja! Die hätte ich auch gern! So hatte ich mir die Energiewende auch nicht vorgestellt!" Annalena schwieg und schaute ihr Rotweinglas an. Robert wusste, dass sie Schwierigkeiten hatte einen klaren Gedanken zu fassen. Aber sie mussten sich nun kurzschließen. Just in diesem Moment piepte ihr Handy mit einer Nachricht des Kanzleramts über eine Dringlichkeitssitzung, die am frühen Morgen stattfinden sollte. "Lass uns loslegen!", antwortete Annalena.

2 Stunden später, 01:02, Roberts Wohnung

"Wir brauchen Schlaf, Schatz!", sagte Robert entschlossen und gähnte in die Innenfläche seiner Hand, "Lass uns bitte ins Bett gehen!"  Annalena, die selbst nur noch schwer die Augen offen halten konnte, nickte und antwortete: " Ich weiß, aber...ich bin mir nicht sicher, ob ich das jetzt kann!" Robert erkannte ihre innere Zerrissenheit sofort und entschied sich dafür, die Dinge in die Hand zu nehmen. Er griff Annalenas Hand und zog sie von der Couch ins Schlafzimmer: "Ich halte dich einfach fest, okay? Dann klappt das schon!" Annalena lächelte ihn an und als sie zusammen im Bett lagen, fest aneinander gekuschelt, wurde ihm klar, wofür es sich in dieser dunklen Zeit durchzuhalten lohnte.

Für die Liebe. 

Another World (Annalena-Robert-Fanfic)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt