Vier: Alleine

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KÖNIGREICH LUXFERRA, IM TURM

NEVA

Ich stand am Fenster, bis die Sonne unterging. Es war bizarr, sich plötzlich in einer Situation wiederzufinden, von der ich bisher nur in einem Buch gelesen hatte. Im Märchen hatte es so unbedeutend geklungen, mit nur wenigen Sätzen waren all die Jahre, die Violaine hier verbracht hatte, abgespeist worden. Doch was für eine Tortur dieser Turm für die junge Frau wirklich gewesen war, das begann ich gerade erst zu begreifen. 

Inzwischen erschienen die ersten Sterne am Nachthimmel und in dem runden Zimmer wurde es stockfinster. Von den Wäldern Luxferras, die sich um das hohe Gebäude herum meilenweit ausdehnten, sah man jetzt nur noch die fahlen Schemen der Bäume, die in der Dunkelheit beinahe bedrohlich wirkten. Ein gleichmäßiges Rauschen hatte den gesamten Wald erfasst, nur gelegentlich durchbrach der Schrei eines Uhus die nächtliche Eintönigkeit. Beinahe vermisste ich darüber die kleinen Wortgefechte mit Chion. 

Langsam ließ ich mich zu Boden sinken und umschlang dabei meine Knie mit beiden Armen. Ein entsetzliches Gefühl kroch meine Kehle hinauf. Es war keine Angst, doch... ich konnte es nicht genau benennen. Einer kurzen Eingebung folgend legte ich meine Hand auf den Platz über meiner Brust, wo sich bei einem Menschen das Herz befand. Eine Weile lauschte ich, dann ließ ich die Hand wieder zurück in meinen Schoß sinken. Ich war mir nicht einmal sicher, was ich erwartet hatte. Dass ich auf einmal mein Herz zurück haben würde? Ein bitteres Lachen entrang sich meiner Kehle. Nach hundert Jahren wären die Götter wohl kaum so gnädig, es mir wieder zu geben.

Und dennoch... aufmerksam horchte ich abermals in mich hinein. Ich war so durcheinander wie noch nie, ich spürte Dinge, die ich nicht spüren sollte und ich fühlte Emotionen, die ich eigentlich gar nicht haben dürfte. Aber wie war das ohne mein Herz möglich? Grübelnd lehnte ich mich an die Wand hinter mir.



Gerade, als meine Augenlieder immer schwerer wurden und ich langsam im Begriff war, in meiner unbequemen Sitzposition einzuschlafen, ließ mich ein schabendes Geräusch am Fenster schlagartig wieder wach werden. Abrupt setzte ich mich auf und tastete den Boden hektisch nach einer Waffe ab. Da das Weltenbuch der einzige schwere Gegenstand in meiner unmittelbaren Nähe war, umklammerte ich es fest mit beiden Händen, bereit, mich mit aller Kraft gegen denjenigen zu verteidigen, der gleich durch dieses Fenster steigen würde. 

Zwei Hände erschienen am Fensterrahmen und zogen sich an diesem in das Turmzimmer. Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang die Gestalt endgültig in den Raum und drehte sich dann zu mir um. Durch eine schnelle Handbewegung schob sie die Kapuze ihres Umhangs zurück, sodass ich die Person darunter endlich erkennen konnte: es war die Hexe, Maeve.







LUXFERRA, SCHLOSS DES KÖNIGS

CHION

Mit einem Gähnen rieb Chion über seine Augen und lehnte sich dabei in seinem Holzstuhl zurück. Ein großer Fehler, denn sofort bohrten sich einige lose Splitter durch den feinen Stoff seines Umhangs in seinen Rücken. Chion stöhnte auf und verlagerte sein Gewicht wieder nach vorne. Wie lange sollte diese Sitzung noch dauern?

Entgegen seiner Befürchtungen hatte man ihn nicht in ein dunkles Verlies geworfen oder direkt am Galgen im Schlosshof aufgehängt. Stattdessen hatte Violaine ihm die Wahl gelassen: er konnte gehen oder ihnen helfen. Nevas mahnenden Blick im Kopf hatte Chion ohne zu Zögern seine Hilfe angeboten. Allerdings hatte ihn bisher noch niemand aufgeklärt. Dafür durfte er seit Stunden dabei zuhören, wie sich selbsternannte Vertreter der Bürger in der Empfangshalle des Schlosses gegenseitig anschrien. Alle paar Minuten eskalierte das Ganze und die Wachen des Königs mussten einschreiten. Nachdem die Streithähne getrennt waren, begann man eine neue hitzige Debatte und das ganze ging von vorne los. Für so viel sinnloses Gerede hatte Chion noch nie viel übrig gehabt. Er bevorzugte es, seine Probleme mit einem Schwert zu klären. 

The Fairytale Of A WitchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt