Zehn: Das Schloss des blauen Ritters

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KÖNIGREICH WREVORA

NEVA

Die Kanten meines Medaillons drückten tief in meine Haut, so fest hielt ich es umklammert, während ich durch den regennassen Wald lief. Der feine Stoff meines langen Kleides war inzwischen an unzähligen Stellen gerissen; der Saum voller Dreck und nasser Blätter. Ich empfand wie an meinem ersten Tag als Hexe, den ich ohne das Medaillon nicht durchgestanden hätte. Selbst ohne Gefühle war ich anfangs unglaublich hilflos und überfordert von meiner Aufgabe gewesen. Immerhin war ich plötzlich dafür zuständig, eine ganze Welt im Gleichgewicht zu halten. Die Halskette war jedoch stets wie ein Anker gewesen, der mich in der Realität hielt und es vermochte, meine Sorgen in den hintersten Winkel meiner Seele zu verdrängen. 


Ein weiteres Mal blieb mein Schuh im Matsch stecken. Ich bereute es immer mehr, einfach so aus dem Schloss gelaufen zu sein- ohne nachzudenken und ohne mich umzuziehen. So trug ich immer noch das blaue Ballkleid und die Absatzschuhe, die ich für den Ball in Novaris ausgewählt hatte. Für diesen Zweck waren sie passend gewesen, doch für einen Weg quer durch schlammiges Waldgebiet waren hohe Schuhe und ein schulterfreies Kleid wahrlich nicht die beste Wahl. 

Trotz allem verbot mir mein Stolz, umzukehren. Ich könnte es nicht ertragen, die vorwurfsvollen Gesichter der Anderen zu sehen, wenn sie erfuhren, dass ich aus Selbstmitleid verschwunden war. Und noch weniger könnte ich die Nachricht ertragen, dass Maeve tatsächlich gestorben war.

Wenn sie denn überhaupt gemerkt haben, dass ich nicht mehr da bin.

Dieser Gedanke versetzte mir einen Stich und gab meinen Beinen gleichzeitig die nötige Kraft, mich immer und immer wieder einen Schritt weiter zu tragen.



Die kühle Luft in diesem Königreich hatte dazu beigetragen, dass ich mich wieder etwas mehr wie ich selbst fühlte; der schreckliche Anblick von Maeve ließ sich langsam aber sicher beiseite schieben und in eine Schublade tief in mir versperren. Celeste würde sie retten. Es musste einfach so sein. Wenn ich schon einmal hier war, konnte ich also genauso gut dieses Reich erkunden. 

Bedauerlicherweise hatte ich keinen blassen Schimmer, wo ich mich befand. Sobald ich deshalb im verbleibenden Tageslicht einen steinernen Pfad inmitten des Waldes ausmachen konnte, steuerte ich sofort darauf zu. Mit einem erleichterten Seufzen setzte ich meine geschundenen Füße auf das Pflaster. Was für eine Wohltat!


Ich kam nun schneller voran und erreichte bald ein altes Herrenhaus. Es sah düster aus mit seiner dunklen Fassade und den kahlen Bäumen, die es umgaben. Dennoch hatte es etwas Erhabenes- ja beinahe Majestätisches- an sich, dass mich wie magisch anzog. 

Erschöpft stieg ich die breiten Stufen der Eingangstreppe hinauf und betätigte dann den schweren Türklopfer. Beinahe augenblicklich öffnete sich die Türe und eine junge Frau mit zerzausten Haaren stürmte heraus. Sie trug weder Mantel noch Schuhe und floh geradewegs in den Wald. Erstaunt sah ich ihr hinterher. Ich konnte mich beim besten Willen nicht an ein Kapitel im Weltenbuch erinnern, in dem es eine solche Figur gegeben hatte. 

Vielleicht ist sie eine Nebenfigur.

Zustimmend nickte ich. Ja, das musste es sein. Alles andere wäre mir in hundert Jahren längst aufgefallen.

Vorsichtig spähte ich durch den nun offenen Türspalt. Konnte ich einfach eintreten oder sollte ich der Höflichkeit halber noch einmal klopfen? Bevor ich mich zu einer Entscheidung durchringen konnte, fiel mein Blick auf eine dunkle Gestalt, die mich aus dem Zwielicht im Inneren beobachtete. 

Seltsam.

Ein Impuls brachte mich dazu, stehen zu bleiben. Es war eigenartig und irgendwie befremdlich, dass diese Person sich versteckte, anstatt mich zu begrüßen.  

"Hallo?", fragte ich zaghaft in die Stille. 

Eine Antwort blieb aus. Als ich erneut ins Innere spähte, war die Gestalt verschwunden. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Das Haus, der dunkle Wald.. verzweifelt versuchte ich, die Erinnerung zu greifen, die in meinem Kopf aufgetaucht war. Doch sie war noch zu verschwommen, zu ungenau, als dass ich sie erkennen konnte. 

Über die Jahre hatte ich allerdings Eines gelernt: wenn einem etwas merkwürdig vorkam, war es besser, zu verschwinden. Das hatten Märchen so an sich: für neugierige und arglose Menschen ging das Ganze meistens nicht gut aus. 

Als ich auf dem Absatz kehrt machte, wurde ich plötzlich gepackt und zurück gerissen.  Schmerz schoss durch die Stelle an meinem Arm, an der mich der Unbekannte grob gepackt hatte.

"Loslasse-", mein Schrei wurde jäh von einem übelriechenden Leinentuch unterbrochen, das mir mit Gewalt auf Mund und Nase gedrückt wurde. Es war feucht von einer Flüssigkeit, deren stechenden Geruch ich nicht identifizieren konnte.

Ich spürte, wie Müdigkeit mich überfiel und sämtliche Glieder erschlafften. Mein Körper gab die Gegenwehr auf und ich sank zu Boden.

"Du hast dafür gesorgt, dass sie entkommt. Dafür werde ich dich leiden lassen.", unangenehm heiß spürte ich den Atem des Fremden an meinem Ohr. Mit letzter Kraft drehte ich mein Gesicht in seine Richtung.

Das Letzte, was ich sah, war ein blauer Bart und die dunkel glitzernden Augen eines Mannes. Dann begann die Substanz auf dem Stofftuch zu wirken und meine Welt versank in Dunkelheit.






KÖNIGREICH WREVORA

CHION

Keuchend stützte Chion beide Hände auf den Knien ab und sog hastig Atem in seine Lungen. Nevas Spuren endeten bei einem Steinweg. Verzweifelt massierte Chion sich seinen Nacken, dann zog er die Kapuze tiefer in das Gesicht und den Mantel enger um seinen Körper. In den letzten Stunde waren die Temperaturen unglaublich schnell gefallen. Alleine der dicke Mantel, den er geistesgegenwärtig gegriffen hatte, bewahrte ihn vor Erfrierungen. Für diesen Temperatursturz musste die Magie des Hauses, das sich hier irgendwo im Wald befand, verantwortlich sein.

Die Frage war: welchen Weg hatte Neva gewählt? War sie der Straße nach rechts oder links, tiefer in den Wald gefolgt? Schaudernd betrachtete er die dunkle Ansammlung von Bäumen. Kein Mensch würde freiwillig tiefer hineingehen; der Anblick verursachte selbst ihm Gänsehaut. Gerade als Chion sich nach einigem Hin und Her nach rechts wenden wollte, sah er plötzlich Licht durch die Bäume blitzen. Eilig folgte der junge Mann dem hellen Schein und stand schon bald vor einem alten Herrenhaus. 

Prüfend zog er das Weltenbuch aus seiner Tasche und verglich das Bild auf der ersten Seite des Kapitels mit dem Anwesen. Es bestand kein Zweifel: hier lebte der Mann, dessen Weg er um keinen Preis kreuzen wollte. Chion wollte soeben auf dem Absatz kehrt machen und dem alptraumhaften Haus den Rücken zuwenden, da erregte eine winzige Bewegung am Eingang seine Aufmerksamkeit.

Blinzelnd schlich er einige Schritte näher und nahm die Eingangstüre genauer unter die Lupe. Sein Herz setzte einen Moment aus, als er einen verdächtig bekannten Stofffetzen bemerkte, der in der Türe stecken geblieben war und nun wild im Wind flatterte. Es handelte sich um einen Teil von Nevas blauem Ballkleid.






The Fairytale Of A WitchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt