Weltenbuch IV

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Es war einmal ein kleines Dorf in den Bergen, dort lebten zwei Familien, deren Kinder am selben Tag das Licht der Welt erblickten. Der Junge und das Mädchen wuchsen zusammen auf und waren bald schon so unzertrennlich wie Geschwister.

Nicht weit von dem Dorf entfernt lebte eine Königin in einem Schloss aus Eis. Und nicht nur ihr Schloss, sondern auch ihre Haut, Haare und ihr Herz waren gefroren, sodass sie mit nur einer Berührung einen Menschen zu Eis erstarren lassen konnte. Die Königin hatte einen Spiegel, über den sie das Geschehen in der Welt betrachten konnte; am liebsten betrachtete sie das kleine Dorf , in dem die zwei jungen Kinder lebten.

Es war ihr eine Freude, den beiden beim Aufwachsen zuzusehen und nicht selten wünschte sie sich, ein Teil dieser Welt sein zu können. Doch eines Tages passierte ihr ein Missgeschick: in Hektik stieß sie den magischen Spiegel um, der daraufhin in unzählige winzige Splitter zerbarst. Heulend vor Wut rief die Königin einen Wintersturm herbei, der die vielen Scherben herumwirbelte und schließlich in die Welt hinaustrug. Als die Frau wieder zur Besinnung kam, war es bereits zu spät: die Splitter waren in der ganzen Welt verteilt. 

So fanden sie auch ihren Weg in das nahegelegene Dorf. Die Bewohner staunten nicht schlecht, als an einem sonnigen Morgen plötzlich ein Schneesturm über ihr kleines Fleckchen Land zog. Doch war er so schnell vorüber, wie er gekommen war und bald schon dachte niemand mehr an dieses sonderbare Ereignis. Es kam jedoch, dass einige der magischen Splitter Gefallen an der Lebendigkeit der Menschen gefunden hatten- kannten sie doch sonst nur die eisige Gegenwart der Königin. Diese Splitter drangen in die Herzen, Augen oder Köpfe der Menschen und nisteten sich dort ein. Ein jeder, dem dieses Unglück widerfuhr, wurde schrecklich übellaunig und vermochte, die Schönheit des Lebens nicht mehr zu erkennen. Eine hübsche Rose sah nun hässlich und verwelkt aus; ein strahlendes Lächeln verwandelte sich in verzerrte Grimassen.

Auch den Jungen traf dieses Schicksal. Von diesem Tag an besuchte er seine beste Freundin nicht mehr und weigerte sich, aus seinem Zimmer zu kommen. Alle Versuche des kleinen Mädchens, ihren liebsten Freund wieder glücklich zu machen, scheiterten. 



So vergingen die Monate und es wurde Winter. Der Schnee brachte in diesem Jahr einen neuen Besucher: die Königin aus dem eisigen Schloss. Sie war auf der Suche nach den Teilen ihres Spiegels und reiste dazu mit ihrem Schlitten durch das ganze Land. Die Bewohner des Dorfes ignorierten sie; die Königin hatte sich unsichtbar gemacht und konnte mit bloßem Auge nicht erkannt werden. Doch der kleine Junge, dessen Splitter sich bereits tief in seine Augen gebohrt hatten, konnte sie sehen und folgte heimlich dem Geräusch ihres klingelnden Schlittens.

Als die Eiskönigin dies bemerkte ward ihr ganz anders und in einer Anwandlung menschlicher Zuneigung nahm sie den kleinen Jungen mit auf ihr Schloss. Dieser war ganz verzaubert von den gläsernen Wänden und Decken und spielte den lieben langen Tag mit allerlei Gegenständen, die er in dem großen Schloss fand. 

Die Königin jedoch langweilte sich bald schon; sie war es nicht gewohnt, auf jemanden Acht geben zu müssen und so ließ sie den Jungen in ihrem Schloss aus Eis und Schnee zurück.


Das kleine Mädchen hatte inzwischen das Fehlen ihres geliebten Freundes bemerkt und machte sich eilig auf die Suche nach ihm. Ihre Reise führte sie durch Berg und Tal, von einem Räubermädchen zu einem Prinzen, der durch sie seine geliebte Frau retten konnte. Voller warmer Gefühle im Herzen stieß das Mädchen schließlich auf das Schloss. Dort fand sie den Jungen, blau vor Kälte und krank vor Hunger spielte er mit den Überresten des Spiegels in der Mitte des Thronsaals.

Eilig ergriff das Mädchen den Jungen bei der Hand und hüllte ihn in eine wärmende Decke. Aus Gewohnheit gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn und siehe da- die Wärme ihrer schwesterlichen Liebe brachte den eisigen Splitter im Auge des Jungen zum Schmelzen. Dieser erwachte wie aus einer Trance und fiel dem Mädchen voller Dankbarkeit um den Hals. Hand in Hand verließen die Kinder das Schloss und sahen dabei kein einziges Mal zurück.

The Fairytale Of A WitchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt