KÖNIGREICH KREONIEL
NEVA
Alle Erhabenheit und Selbstgefälligkeit fiel von mir ab, sobald ich Maeves Zimmer betrat. Schnellen Schrittes war ich durch das Haupthaus des Schlosses gerauscht, in Gedanken immer noch Chion verfluchend. Als ich dann Maeves Zimmertüre aufstieß, war ich nicht annähernd vorbereitet auf den Anblick, welcher sich mir nun bot.
Ich konnte mich noch daran erinnern, wie sie gelacht hatte, als ich mich mit dramatischen Gesten durch den Berg an Ballkleidern gewühlt und ein jedes anprobiert hatte.
Jetzt lag Maeve leblos da; ihre Augen waren geschlossen und ihre rechte Hand in Blut getränkt, das auch einen Großteil der oberen Bettdecke und ihren Mund bedeckte.
Ich war wie erstarrt, konnte nicht einmal zu ihr laufen. Lebte sie noch? Oder war sie womöglich schon tot? Nein, daran wollte ich gar nicht denken. Wenn sie tot war.. dann würde ich nie mehr Maeves helles Lachen hören. Sehen, wie sie sich auf einem unserer Spaziergänge mit flatternden Haaren um sich selbst drehte. Ihre köstliche Tomatensuppe probieren, deren Spezialzutat sie niemandem verriet. Sie trösten, wenn sie Violaine vermisste.
Ein schweres Gewicht schien immer stärker auf meine Brust zu drücken. Wie hatte ich nur übersehen können, dass es ihr so schlecht ging?
Wie durch Watte bekam ich mit, dass Chion und Celeste an mir vorbeistürmten. Flink tastete Celeste nach Maeves Puls, dann schrie sie Anweisungen, die Chion umgehend befolgte. Ich verstand immer noch kein Wort, stattdessen beobachtete ich gebannt das Schauspiel vor meinen Augen.
Sie hat gesagt, sie ist Heilerin.
Celestes Worte auf der Pflasterstraße in Novaris kamen mir in den Sinn. Sie brannten sich in meinen Schädel, bis ich sie klar und deutlich vernehmen konnte. Ich wiederholte die Worte im Geiste, wie eine skurrile Art Mantra; wieder und wieder. Nur dieser eine Satz durchdrang den Nebel, in den meine restlichen Gedanken seit Betreten des Zimmers gehüllt waren.
Als ich unvermittelt an beiden Schultern gepackt und leicht geschüttelt wurde, sah ich verwirrt auf. Chion hatte sich über mich gebeugt und sah mich beinahe mit etwas wie Sorge im Blick an.
"Neva was ist los?", fragte er leise, seine Stimme ungewohnt sanft.
"Ich?..", meine Stimme wiederum klang seltsam krächzend und so gar nicht nach mir. ".. mir geht es gut."
Eine steile Falte bildete sich zwischen Chions Stirn.
"Warum weinst du dann?" Immer noch umfasste er meine Schultern, der Druck bewahrte mich davor, in die endlose Gedankenspirale abzugleiten, die sich in meinem Inneren auftat.
Mechanisch tastete ich nach meinen Wangen. Tatsächlich, sie waren nass. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal geweint hatte.
Tief holte ich Luft, wollte irgendeine Erklärung finden für das Chaos, das in meinem Inneren herrschte. Da rief Celeste etwas und Chion ließ mich augenblicklich los. Schnell eilte er an die Seite der blondhaarigen Frau und hielt Maeves Oberkörper fest, der begonnen hatte, unkontrolliert zu zucken. Starr beobachtete ich die Szene eine Weile. Immer mehr fühlte ich mich wie ein Fremdkörper in einem ansonsten reibungslos laufenden Getriebe. Ein Sandkorn, dass die perfekten Zahnräder einer Uhr störte.
Ich bin hier nur im Weg.
Schritt für Schritt wich ich zurück Richtung Tür.
Sie hat gesagt, sie ist Heilerin.
Wegen mir war Celeste um ein Haar in Novaris geblieben. Wäre Chion nicht gewesen, hätte Maeve nicht den Hauch einer Chance gehabt. Wegen mir und meiner selbstsüchtigen, kindischen Entscheidung.
Langsam drehte ich mich um; wie eine Marionette setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich merkte erst, dass ich außerhalb des Schlosses war, als ich den leichten Wind auf der Haut spürte. Als ich die Türe hinter mir ins Schloss fallen hörte, begann ich zu rennen.
CHION
Als er die Eingangstüre zufallen hörte, drehte er sich alarmiert um. Keine Spur von der weißhaarigen Hexe.
"Verdammt.", zischte Chion zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Nevas Verhalten vorhin hatte ihm Angst gemacht. So neben der Spur hatte er sie noch nie erlebt, bleich und zur Salzsäule erstarrt wie sie dort gestanden hatte. Er musste kein Heiler sein, um erkennen zu können, dass die Hexe unter Schock stand.
Verzweifelt fuhr sich Chion mit beiden Händen durch seine Haare.
Verflucht noch mal, wie hatte er so dumm sein können. Neva hatte noch nie Gefühle gehabt, das war vermutlich das erste Mal, dass sie so etwas wie Trauer verspürte. Chion war sehr wohl aufgefallen, dass die Beziehung zwischen der Hexe und Maeve in den letzten Wochen immer inniger geworden war. Umso schlimmer musste es für Neva gewesen sein, ihre Freundin so zu sehen. Und er hatte es kein Stück besser gemacht.
Götter, verflucht!
Chions Finger blieben an dem goldenen Stirnreif hängen, den er kurzerhand vom Kopf zog und in die nächste Ecke warf. Klirrend rollte das goldene Schmuckstück über den Boden und blieb schließlich kurz vor dem leicht geöffneten Fenster liegen.
Celeste warf ihm daraufhin einen mahnenden Blick zu.
Sie hatte es inzwischen geschafft, Maeve Flüssigkeit einzuflößen, die der jungen Hexe etwas Farbe verliehen hatte. Den kleinen Schreibtisch neben dem Bett hatte sie kurzerhand für Tiegel voller Kräuter und Salben auserkoren, die Celeste nach und nach aus ihrer Umhängetasche gezogen hatte. Gerade begann sie, etwas zu mischen, das streng nach Zwiebeln und unbekannten Kräutern roch. Ohne aufzublicken, wies sie mit dem Kopf kurz Richtung Türe.
"Ich komme hier alleine zurecht. Such du bitte nach Neva."
Dankbar eilte Chion aus dem Raum und die unzähligen Treppenstufen hinunter. Auf dem Weg durch die Eingangshalle griff er seinen großen Leinenbeutel, der gut verstaut neben seinem Mantel hing. Es war nur eine Vorahnung, doch er hatte das Gefühl er würde den Inhalt brauchen können.
Auf den wandelnden Pfaden folgte er Nevas Spuren im Matsch. Zu seinem Glück hatte es die letzten Stunden geregnet, sodass es ein Kinderspiel war, zu erkennen, wohin ihr Weg geführt hatte. Chion stoppte erst, als er auf einem der unebenen Trampelpfade plötzlich das Weltenbuch liegen sah. Es war mittig aufgeschlagen: dem Beginn eines Märchens. Eilig griff Chion danach und begann zu lesen, seine Finger blätterten dabei vorsichtig durch die feuchten Seiten. An einer bestimmten Stelle angekommen, verharrte sein Zeigefinger auf den schwarzen Buchstaben. Rasch klappte Chion das Buch zu und verstaute es unter seiner Jacke. Dann rannte er los. Er musste Neva finden, bevor es die einzig bösartige Person in Wrevora tat.
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The Fairytale Of A Witch
FantasyKreoniel ist das Zentrum aller Märchenwelten. Die dort lebende Hexe hat 100 Jahre die Aufgabe, für die Ordnung zwischen den Reichen zu sorgen und allen Märchenfiguren ihr Happy End zu bescheren. Ist ihre Zeit abgelaufen, zerfällt sie zu Staub. Inzwi...