Zwei: Eine neue Bekanntschaft

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HEXENSCHLOSS, ZWEI WOCHEN SPÄTER

NEVA

Ein ohrenbetäubendes Krachen riss mich unsanft aus meinem leichten Dämmerschlaf. Ruckartig schreckte ich hoch und wäre dadurch beinahe von der breiten Fensterbank gefallen, auf der ich es mir bereits vor Stunden mit einer Vielzahl an Decken und Kissen bequem gemacht hatte. Die Erstausgabe von Abweichungen der Magie rutschte mir dabei langsam vom Schoß Richtung Boden; im letzten Moment konnte ich das Buch mit einer Hand auffangen. Es war bereits so alt, dass es die Bekanntschaft mit dem abgewetzten Dielenboden vermutlich nicht überlebt hätte. 

Ich befand mich genau eine Etage über der unterirdischen Bibliothek des Schlosses; in einem Seitenflügel, der mit riesigen Fenstern ausgestattet war. Der Flur wurde vom warmen Licht einiger Wandlampen erleuchtet, die seit meiner Ankunft im Schloss noch nie erloschen waren.

Abermals hallte ein lautes Klopfen durch die Gänge; ein Geräusch, das ein mir unbekanntes Gefühl in mir aufsteigen ließ. Irgendjemand schien vor meiner Eingangstüre zu stehen und hartnäckig nach Einlass zu verlangen. 

Seufzend stand ich auf und strich über mein Kleid, das nach dem langen Sitzen zerknittert und voller Falten war. Meine widerspenstigen Locken drehte ich kurzerhand zu einem Knoten in meinem Nacken zusammen und befestigte diesen mit einem Bleistift, den ich zuvor als Lesezeichen verwendet hatte.

Auf dem Weg nach unten strich ich aus Gewohnheit kurz über das goldene Medaillon an meinem Hals; sein leichtes Gewicht auf meinem Schlüsselbein gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Ich wusste weder, woher die Kette kam, noch wie ich in ihren Besitz gelangt war. Sie hatte bereits an meinem ersten Tag als Hexe vor hundert Jahren um meinem Hals gelegen und mich die letzten Jahrzehnte stets begleitet. Es war inzwischen zu einem fast heiligen Ritual geworden, das Medaillon kurz vor einer schwierigen Aufgabe oder dem Besuch in einer der gefährlicheren Märchenwelten zu berühren und einen Moment so zu verweilen. Diese Geste schenkte mir jedes Mal erneut die Kraft, die ich brauchte.







In der Eingangshalle angekommen öffnete ich die Türe und hielt sofort inne. Vor mir stand ein Mann. Schwarze Haare fielen ihm in kurzen Strähnen ins Gesicht, während eisblaue Augen mich starr musterten. Er war schlank gebaut, aber so groß, dass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen sehen zu können.

Eine Weile standen wir so da, bis ich die unangenehme Stille durchbrach.

"Wer bist du?"

Anstatt zu antworten, verfinsterte sich der Gesichtsausdruck des Mannes unmerklich, als hätte ich ihn beleidigt.

"Kann ich Ihnen helfen?"

Aufgrund seines Aussehens hatte ich automatisch angenommen, er müsste jünger als ich sein, aber vielleicht hatte ich mich geirrt. Auch mir sah man mein Alter schließlich nicht an.

"Das "du" ist in Ordnung." Die Antwort war leise, fast melodisch, und ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass mir der Fremde soeben geantwortet hatte. Überrascht musterte ich ihn ein zweites Mal. Bei seinem Aussehen hatte ich ihn lauter und aggressiver eingeschätzt.

"Dann weißt du nicht, wer du bist?", hakte ich nach.

"Ich.. bin vor einigen Tagen in dem Wald dort aufgewacht.", mit einem Finger deutete der Mann auf die Bäume in seinem Rücken.

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen. Diese Geschichte kam mir verdächtig bekannt vor.

"Du kannst dich nicht erinnern, woher du kommst oder wie du in den Wald gekommen bist?", vergewisserte ich mich.

"Nein." Die Tonlage des Mannes hatte sich geändert, er klang nun fast genervt.

Für mich war es jedoch eindeutig. Seine Geschichte glich der meinen zu sehr, als dass es Zufall sein könnte. Und das bedeutete.. noch mehr Fragen und keine Antwort auf meine eigenen.

The Fairytale Of A WitchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt