Ich war fest entschlossen, dass dieses Brathähnchen von einem Helden mich nicht meinen Job kosten würde. Noch einmal überprüfte ich, dass alles gut verstaut und alle Reißverschlüsse geschlossen waren. Sollte ich den Brief bei dem Wind verlieren, würde Parola mich mit bloßen Blicken in Stücke reißen und vor dieser Frau hatte ich ehrlich mehr Angst als vor der Vorstellung, vom Dach zu fallen. Ich kannte bis heute ihren Quirk nicht, aber da selbst Medusa einen Bogen um sie machte, wollte ich auch nicht nachfragen.
Auch mein Handy wanderte in eine Jackentasche, die ich verschließen konnte und dann stieg ich die Leitersprossen hoch zu den Antennen, an denen Richard gearbeitet haben musste.
Der Wind pfiff mir in den Ohren und mein Herz hämmerte heftig. Zum Glück trug ich immer Handschuhe. Das feste Leder gab mir zusätzlichen Halt und ich wurde mutiger. Die einzelnen Plattformen rings um die Krone des Gebäudes waren durch schräge Leitersprossen verbunden und ich angelte mich weiter, bis ich endlich sah, was Richard mit Balkon gemeint haben musste. Ich hätte es Landebahn genannt. Wie eine Zunge reckte sich der steinerne Vorsprung aus dem Gebäude. Es gab keinen direkten Weg herunter, aber das war nicht das erste Kuppeldach, über das ich mir meinen Weg bahnen musste. Auch wenn das letzte Mal meine Mutter die Zeit gestoppt hatte und wir nicht in solcher Höhe gewesen waren. Ich kletterte soweit ich kam und ließ mich dann mit dem Bauch auf die Kuppel gepresst runter gleiten, bis ich den Stein unter den Füßen spürte.
Erleichtert atmete ich den frischen Geruch der Wolken um mich herum ein. Ich war noch nie soweit oben gewesen. Nicht mal im Flugzeug, da meine Eltern alles vermieden, wo man Ausweise vorzeigen musste.
Das Schlimmste hatte ich hinter mir - sagte ich mir selber - und so ließ ich meine Neugierde gewinnen und krabbelte auf allen Vieren zum Vorsprung. Es gab kein Geländer, denn der, der hier wohnte, musste sich nicht davor fürchten, zu fallen. Mit dem Bauch auf dem Stein robbte ich die letzten Zentimeter, bis meine Augen über den Rand lugten.
Ich spürte ein Ziehen in der Magengegend, kaum das ich in die endlose Tiefe geblickt hatte und schob mich sofort wieder zurück. Von hier oben zu fallen, musste ein seltsames Gefühl sein, dachte ich noch, während ich mich wieder der Wohnung zuwandt. Die gesamte Front zur Landebahn war aus Glas. Große Fenster, die oben zu drei eleganten Bögen zusammen liefen.
Jetzt machten Richards Worte nur noch mehr Sinn. Das hier war nicht einfach nur ein Wohnort. Das hier war Kunst. Kein normaler Mensch konnte sich so eine Wohnung leisten.
Mit einer Hand Richtung Boden ausgestreckt näherte ich mich dem Fenster. Der Wind war wieder angezogen und ich dankte allen Göttern, dass sie meinen kurzen Abstecher zum Vorsprung beaufsichtigt hatten. Eine solche Böe und ich wäre wie trockenes Laub herunter gerollt.
Ich berührte das Glas und tastete mich an der Wand entlang. Es war verspiegelt, aber an einer Stelle konnte ich die Einfassung erkennen, die die Tür darstellte. Aber nirgendwo war eine Möglichkeit sie zu öffnen. Noch einmal war ich froh über die Handschuhe. Meine nackten Finger hätten unschöne Abdrücke hinterlassen. Irgendwie musste diese verdammte Tür doch aufgehen! Ich war so weit gekommen!
Aber nichts regte sich. Unsicher ging ich weiter. Vielleicht gab es eine zweite Öffnung? Gab es nicht.
Doch als ich am Rand angekommen war, sah ich, wo die Wohnung weiter ging. Sie musste mehrere Etagen fassen, mutmaßte ich, als ich den Rest der Außenfassade begutachtete.
Da!
Weiter hinten, im oberen Stockwerk, stand ein Fenster auf kipp. Gekippte Fenster zu öffnen, hatte ich oft genug mit meinen Eltern geübt. Nicht um irgendwo einzubrechen, sondern um sich schnell verstecken zu können.
Die Steinfassade war zu meinem Glück ebenso kunstvoll gearbeitet, wie der Rest der Kuppel. Filigrane Ranken und perfekte Details gaben mir genug Zuversicht, dass ich es schaffen würde, da hoch zu klettern, ohne den Halt zu verlieren. Noch einen tiefen Atemzug, der seltsam süßlichen Regenluft, dann schlang ich die Arme um die säulenartige Ecke des Balkons und begann meinen Aufstieg.
Es war anstrengender, als ich erwartet hatte. War die Luft hier oben dünner? Ich presste meine Oberschenkel gegen die Fassade, während ich mit den Händen nach dem nächsten Halt tastete. Klettern war nie etwas, das mir Spaß gemacht hatte. Zu viel Konzentration, zu viel Arbeit. Nie hätte ich erwartet, es mal zu bereuen, nicht mehr Zeit damit verbracht zu haben.
Die letzten Zentimeter waren die schlimmsten. Ich konnte den Vorsprung schon sehen, aber meine Arme zitterten so sehr, dass ich mein Gesicht gegen den rauen Stein drückte, in dem Versuch mich Gewicht mehr auf die Beine zu verlagern.
Eine erbarmungslose Windböe schlug mir durchs Gesicht und riss mein Haargummi auseinander. Die befreiten Haarsträhnen peitschten um meinen Kopf und ich konnte nicht schnell genug die Augen schließen. Eine Strähne traf mein Auge und sofort liefen mir die Tränen über die Wange und meine Sicht verschwamm.
„Fuck!", knurrte ich, aber die Wut gab mir neue Motivation. Ich würde Best Jeanist nicht enttäuschen. Und wenn es das letzte war, was ich tat.
Ich grub meine Finger fester in jede Kerbe und jede Kante. Ein Fuß nach dem anderen, bis ich sicher war, dass ich den Vorsprung erreichen konnte. Mit einem leisen Schrei stieß ich mich ab und streckte die Arme nach der Kante aus. Bäuchlinks landete ich auf dem Dach, die Beine baumelten in der Luft, die Hände fanden nur ungenügend Halt. Ich strampelte und wackelte, bis ich eine Ecke greifen und mich hinauf ziehen konnte.
Erschöpft blieb ich auf dem Rücken liegen. „Du wärst gerade beinahe drauf gegangen", sagte ich ungläubig zu mir selber. „Für einen dummen Brief." Ein hysterisches Glucksen rollte über meine Lippen, doch ich schüttelte sofort den Kopf, das meine wilden Haare herum flogen. Ich konnte meine Panik hinterher an Parola auslassen. Immerhin war es ihre Schuld gewesen, dass ich überhaupt auf diese dumme Idee gekommen war.
Das gekippte Fenster zu knacken war im Gegensatz zu der Kletterpartie ein Kinderspiel gewesen. Ich glitt über den Fenstersims hinein und schloss das Fenster hinter mir wieder.
Der Raum war ein Badezimmer, doch es war so klein im Verhältnis zum Rest der Wohnung, dass es wohl für Gäste sein musste?
Erschöpft ließ ich mich auf den geschlossenen Klodeckel sinken und vergrub für einen Moment das Gesicht in den Händen. Meine Arme und Beine zitterten von der ungewohnten Anstrengung und erst jetzt wurde mir klar, dass ich niemals auf dem selben Weg wieder zurück kommen würde.
Ich hatte mich von der Panik vor Parola blenden lassen. Sie konnte auf keinen Fall wirklich eine Kündigung durchsetzen, bei allem, was ich versucht hatte, oder? Selbst wenn der junge Held mich nicht leiden konnte und im schlimmsten Fall behaupten würde, den Brief nie erhalten zu haben, so hatten Richard und der Portier mich doch eindeutig gesehen. „Was ist nur falsch in deinem Kopf?", knurrte ich in meine Handflächen. Da vibrierte das Handy in meiner Tasche. Ich musste einen Handschuh ausziehen, damit der Touchscreen meine Hand erkannte.
Kimmi. Oh. Fuck.
Ich war nicht nur in Hawks Wohnung eingebrochen, mehr noch. Ich war umsonst hier eingebrochen, denn er war ja bei dieser Show.
Ohne die Nachricht zu lesen, schob ich mein Handy zurück in die Jackentasche.
Beinahe hätte ich laut gelacht. Ich taugte wirklich nicht zur Heldin. Doch nun war es zu spät für einen Rückzieher. Ich würde den Brief auf die Theke legen, wie Parola vorgeschlagen hatte und dann würde ich beten müssen, dass es Hawks so peinlich war, dass jemand wie ich bei ihm hatte einbrechen können, dass er kein Wort darüber verlieren würde.
Vielleicht fand ich in der Wohnung eine Möglichkeit, heile zurück nach unten zu kommen. Sonst müsste ich den Fahrstuhlschacht aufbrechen und nach unten klettern.
Nur um meine Chancen auf Hawks Wohlwollen zu vergrößern, zog ich meine dreckigen Schuhe aus und schlich auf Socken aus dem Bad. Der Flur war erstaunlich schmal. War ich wirklich in der richtigen Wohnung? Vielleicht gab es hier oben mehr als eine Wohnung? Oh Nein! Was, wenn ich nach all der gebauten Scheiße auch noch in der falschen Wohnung war?!
Hektisch schüttelte ich den Kopf. Das war unmöglich. Mit den Schuhen in der einen Hand und die andere an der Wand schlich ich den Flur entlang zu dem Ende, an dem Tageslicht den düsteren Raum flutete.
Erleichterte atmete ich durch. Ich hatte mich nicht verrechnet. Da war das riesige Fenster.
Eine Wendeltreppe führte aus dem Flur hinunter in des größte Wohnzimmer, das ich je gesehen hatte. Der Fernseher an einer Wand war größer als Kinos, in denen ich gewesen war!
Ich wollte gerade zu dem Couchtisch gehen, als ich ein Rascheln hörte. Wow, dachte ich noch, wie leise der Wind hier drinnen ist, doch schon mit dem nächsten Schritt änderte sich alles.
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Heldenmut
FanfictionIch bin mein Leben lang weg gelaufen. Davor entdeckt zu werden. Mehr haben mir meine Eltern nie erklärt. Wir sind von Ort zu Ort geflohen, immer neue Namen, neue Identitäten. Kein Zuhause, keine Wurzeln. Denn wir sind böse. Kein Held wird je sein L...