18. Dezember 18.53 Uhr

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Endlose Stille schien den Raum aufzufressen und mit ihm Ethan.
Kleine Staubpartikel versetzten Ethans Augen in Trance und erinnerten ihn an die Ruhe vor dem Sturm letzte Nacht.
Existenz war ein komisches Phänomen.
Ob es anderen so ging wie ihm? Konnte es anderen überhaupt so ergehen wie ihm? Empfand nicht jeder Mensch unterschiedlich und dementsprechend waren Überschneidungen ausgeschlossen, es sei denn jemand wäre genau das gleiche wie Ethan widerfahren, exakt das gleiche, das selbe? Oder gab es einige Gefühle und Emotionen, vielleicht sogar Gedanken, die jeder Mensch irgendwann spürte?
Keiner fühlte die gleiche Trauer, jeder trauerte auf seine Weise, trotzdem trauerten alle.
So rasten Ethans Gedanken dahin, während seine Augen vom Licht der außen stehenden Laterne wie Motten angezogen wurden.
Die kühle Nachtluft umspielte seine Mundwinkel, fand den Weg über seine Nase hin zu seinen Augenbrauen.
Er mochte sein Gesicht nicht. Um genau zu sein mochte er seinen ganzen Körper nicht. Beides erinnerte ihn an seine Herkunft, seine Vergangenheit. Markante Augenbrauen, schmale Lippen, spitzes Kinn, tiefe Augenringe.
Dunkle Höhlen in seinen Schädel.
Sein Kopf begann zu schmerzen. Er presste die, zu Fäusten geballten Hände auf seine Augäpfel. Hinter seinen Lidern tanzten schemenhafte dunkle Formen und je fester er drückte, desto schneller verwandelten sich die Formen in grelle Punkte und Blitze, ganz so als habe er ein Feuerwerk im Kopf. Langsam ließ der Junge seine Hände sinken. Der Schmerz pochte immer noch provokant, jetzt in seinen Schläfen.
Geistesabwesend wanderte sein Blick über seine Hände. Wie beeindruckend es war, dass er selbst alle seine Finger binnen Sekundenbruchteilen anweisen konnte eine Faust zu formen, locker zu lassen, das typische Spider-Man-schießt-Netze Handzeichen zu machen.
Wobei, gab es ihn, also Ethan, wirklich? Eigentlich gab es ja nur ein Gehirn, welches alle seine Gedanken dachte und seine Charakterzüge besaß. Was für Eigenschaften hatte er überhaupt? Was war sein Lieblingstier? Oder Lieblingsessen? Oder Lieblingsbuch?
Ethan lief ein Schauer über den Rücken. Hatte er überhaupt Persönlichkeit? Und was genau war Persönlichkeit eigentlich? War er vielleicht nur der Nebencharakter des Lebens? Spielte er vielleicht nur als "der gute Kumpel" mit? Wessen Nebencharakter wäre er denn dann? Der seiner Mutter? Maurizius'? Oder doch jemand ganz anderes?
Unfreiwillig musste er grinsen. Seine tragische Vergangenheit machte aus ihm eher einen Superhelden, als einen Nebencharakter. Anscheinend war sein Humor etwas markahber. Wenigstens etwas schien er zu wissen. Immer wieder überwältigte ihn das Leben.
Als er schließlich seinen Blick vom Fenster lösen konnte, fiel dieser wie zufällig auf den vor ihm stehenden Stuhl. Ein schöner Stuhl. Dunkles Leder, stabile Holzbeine, ein sesselartiges Polster.
Jener Stuhl stand so beeindruckend im Raum, als gehörte dieser ihm. Natürlich wusste Ethan, dass ein Stuhl nur ein Stuhl war, welchem offensichtlich kein Besitz, wie das Zimmer, zugeschrieben werden konnte. Dennoch fühlte er die Präsenz des Möbelstückes klar und deutlich. Wäre dieser Stuhl ein Mensch, so trüge er Anzug, überlegte Ethan. Er würde alle Gespräche dominieren, seine Angestellten begeistern und Vorgesetzten beeindrucken. So eine Person kennenzulernen wäre sicher bemerkenswert. Ganz tief im Inneren fragte sich Ethan, ob er nicht selbst gerne eine solche Person wäre.

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