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Auf meinem Handy befindet sich etwa 20 verpasste Anrufe und ungefähr gleich viele Nachrichten, alle von Jess. Irgendwann ist mir das Vibrieren so auf die Nerven gegangen, dass ich es einfach ausgeschaltet habe. Eigentlich darf ich es ihr nicht einmal übelnehmen, ich bin ohne Erklärung verschwunden und habe mich seither auch nicht mehr gemeldet, sie macht sich eben Sorgen um mich. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Hey Jess, ich träume von einem Mann, den ich gestern gesehen habe. Scheisse das ist doch verrückt. Genau so verrückt ist es, dass ich es auf gewisse Weise bereue geflüchtet zu sein. Vielleicht hätte ich ihm ein paar Fragen stellen können, wer weiss, es wäre sogar möglich, dass er das ganze erklären könnte. Und dann ist er mir noch nachgerannt, weshalb ich davon ausgehe, dass er mich kennt, alles andere würde keinen Sinn ergeben. Ein Seufzer kommt mir über die Lippen, er hat so verflucht gut ausgesehen! Die Version aus meinen Träumen ist nichts im Vergleich zu jener aus der Wirklichkeit und erst seine Ausstrahlung, er hat etwas Wildes, unzähmbares an sich. Es war viel leichter mit meinen Träumen umzugehen als jetzt mit dieser Geschichte. Die Türklingel und das energische Klopfen holen mich aus meinen Gedanken, innerlich hoffe ich die Person möge gleich wieder gehen.

„Liora? Bist du da? Scheisse ich weiss du bist es, mach die verdammte Tür auf!"

Irgendwie habe ich damit gerechnet, dass es Jess sein würde. Wenigstens eine lausige SMS hätte ich ihr schreiben können, sie hat wahrlich eine bessere Freundin verdient als mich. Nur mit Mühe schaffe ich es mich von Sofa zu erheben und ihr die Tür zu öffnen, die gleich darauf rein stürmt.

„Bist du noch ganz dicht! Was fällt dir ein einfach so unterzutauchen!"

Bedrohlich hat sie ihren Finger auf mich gerichtet und ist vor Wut sogar schon rot angelaufen. Ohne etwas zu erwidern, laufe ich wieder zu meinem Sofa, lasse mich drauf plumpsen und schnappe mir ein Kissen, welches mir als eine Art Schutzschild dient. Ihr ist meine Unsicherheit nicht entgangen, weshalb sie sich zu mir setzt und sanft nach meinen Händen greift.

„Süsse, was ist los? In letzter Zeit verhältst du dich wirklich seltsam."

„Erst musst du mir versprechen mich ausreden zu lassen, bevor du dein Urteil abgibst. In Ordnung?"

„Warte, ich habe das Gefühl, das wird ein Wir-Brauchen-Wein-Gespräch."

Gleich darauf steht sie auf und macht sich auf den Weg in die Küche, holt zwei Gläser, eine Falsche Rotwein und schlägt vor unser Gespräch nach oben zu verlegen. Erneut erweist sich mein kleiner Wintergarten als eine gute Investition. Bevor wir es uns bequem machen, hole ich die Zigaretten aus der Kommode, Jess schenkt uns ein und ich gönne mir erst einen grossen Schluck, um etwas Mut zu tanken und zünde mir eine Zigarette an. Sanft schwenkt sie den Wein in ihrer Hand und wartet geduldig darauf, dass ich beginnen möge.

„Okay. Seit einer Weile habe ich einen Traum, der mich verfolgt. Er kommt normalerweise alle paar Nächte, was mich aber verwirrt ist, dass es immer derselbe Ablauf ist. Da ist dieser Mann und ich...Jess ich schlafe jedes Mal mit ihm."

„Ha! Ich sag's dir doch schon die ganze Zeit! Du bist auf Sexentzug, ganz einfach."

„Würdest du mich bitte ausreden lassen? Es fällt mir so schon schwer genug, auch ohne deine blöden Kommentare. Also, es bleibt aber nicht beim Sex, danach verwandelt er sich in einen...in einen Wolf."

Noch nie ist es mir so schwer gefallen mich meiner besten Freundin zu öffnen und das schlimmste kommt ja erst noch! Dank ihrer Begeisterung für magische Wesen, weiss ich, sie wird mir glauben. Mir bereitete viel mehr Sorgen, dass sie genau wegen ihrem Hang zu dem mir doch etwas zu sehr glauben würde und deswegen nach irrationalen Erklärungen suchen würde. War es vielleicht doch ein Fehler ihr davon zu erzählen? Ihr Augen mustern mich lange, wahrscheinlich versucht sie herauszufinden, ob ich mir gerade einen Scherz mit ihr erlaube.

„Na gut Süsse, aber ich verstehe wirklich nicht was daran so schlimm ist. Es ist doch nur ein Traum."

Sie plappert noch etwas vor sich hin, dass ich einfach eine blühende Fantasie hätte, ich mir wegen dem nicht den Kopf zerbrechen sollte und mir mein Unterbewusstsein vielleicht etwas sagen wollte. Irgendwann habe ich ihr nicht mehr wirklich zugehört, stattdessen platzt es einfach aus mir heraus.

„Ich habe ihn gesehen!"

„Von wem sprichst du?"

„Na IHN! Den Mann aus meinen Träumen. Ich habe ihn gestern im Midnight gesehen. Vor lauter Panik bin ich dann rausgerannt und ins Taxi gesprungen."

Gerade durchlebe ich alle meine Emotionen der letzten Wochen und Stunden wieder. All die Verwirrung, Wut, Verzweiflung, aber nach und nach weichen sie der Erleichterung. Jetzt da ich es endlich laut ausgesprochen habe, habe ich nicht mehr das Gefühl Wahnsinnig zu werden. Es dauert eine Weile, bis Jess ihren Mund öffnet, irgendwie kommt sie mir ziemlich nervös vor, was eigentlich seltsam ist. Abwechselnd zupft und nagt sie an ihrem Nagelhäutchen, öffnet ihre Lippen, nur um sie dann wieder zu schliessen. Irgendwann schafft sie es, mich zu fragen ob ich mir absolut sicher bin, aber das war es dann auch schon. Vorsichtig lege ich meine Hand auf ihre, um sie davon abzuhalten, sich noch die Finger blutig zu beissen.

„Ich wusste es, also ich meine, ich habe es schon immer geahnt. Du bist was Besonderes Liora."

„Wovon sprichst du?"

„Deine Träume haben ganz bestimmt etwas zu bedeuten. Du brauchst mich nicht so blöd anzusehen! Glaubst du ich habe nie bemerkt, dass du eine Art sechsten Sinn für Gefahren hast? Liora du hast mich gewarnt in diese Gasse zu laufen, du hast gewusst, dass uns dort etwas schlimmes erwarten würde."

Gut, mit den Vorahnungen hat sie ja recht, aber das mit den Träumen geht echt zu weit! Wenn sie das alles doch schon gewusst hat, wieso hat sie mich nicht früher darauf angesprochen? Gerade frage ich mich, wer von uns beiden den Besuch beim Psychiater nötiger hat. Sollten Mediziner je nach einem Beweis gesucht haben, ob Wahnsinn ansteckend ist, dann sitzt er direkt vor mir.

„Du spinnst doch! Hörst du dir eigentlich selbst zu?"

Ein sanftes Lächeln umschmeichelt ihre Lippen. Sie wirkt, als ob sie sich der Sache absolut sicher wäre.

„Hör zu, ich kenne da diese Frau, ihr Name ist Flora. Meine Eltern haben mich als Kind immer zu ihr gebracht, wenn ich krank war oder so. Sie ist eine Art Medizin-Mann, also Frau und sie hat die Gabe verborgene Botschaften zu entschlüsseln, eben zum Beispiel aus Träumen. Wieso stattest du ihr nicht einen Besuch ab?"

„Ach komm schon Jess. Du weisst genau was ich von solchen Dingen halte."

Gerade als sie etwas erwidern will, beginnt ihr Handy zu klingen und sie wirft einen kurzen Blick darauf. In einem Zug leert sie ihr Glas und steht dann auf.

„Süsse, ich muss leider los. Denk mal darüber nach. Was hast du schon zu verlieren?"

Ähm meinen Verstand? Wenn ich den nicht schon längst verloren habe. Aber das spreche ich nicht laut aus, ich nicke einfach mit meinem Kopf und verspreche zumindest darüber nachzudenken. Schnell drückt sie mir einen Kuss auf die Wange und lässt mich mit meinen Gedanken allein zurück.

Zwischen Schatten und Licht - VollmondWo Geschichten leben. Entdecke jetzt