Luftdicht verpackt - Teil 1

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Es ist der Abend vor dem ersten Advent.

Meine Finger gleiten über die Tasten des Flügels. Anfangs noch ein bisschen zögernd, dann mutiger. Ich bin mutterseelenallein in dem Gemeindehaus, kurz nach zehn Uhr abends. Niemand wird es hören, wenn ich einen Fehler mache. Aus dem Kopf, weil ich ja nicht ahnen konnte, dass ich die Gelegenheit haben würde mich an einen Flügel zu setzen, spiele ich die Melodie, welche die Abreise Frodos, Gandalfs und der Elben von den Grauen Anfurten zu den Gestaden des Westens begleitet.

Lay down your sweet and weary head.

Night is falling, you've come to journey's end...

Depressiver Kitsch? Mir doch egal! Ich liebe diesen Song. ,Ein kleiner grüner Kaktus' war noch nie mein Fall, genauso wenig wie ,Das rote Pferd' oder irgendwelche sogenannten Sommerhits, die krebsrote, dummdämlich grölende Besoffene zwischen den Sandkörnern irgendwelcher Touri-Bratstationen zum Besten geben.

Obwohl ich den ganzen Tag gesungen habe - heute bei einem Gospelworkshop - geht es meiner Stimme noch erstaunlich gut und der alte Bechstein lässt selbst mein stümperhaftes Spiel einigermaßen annehmbar klingen. So kann ich mich mangels Zuhörerschaft fast sorglos von der Musik davon tragen lassen.

Sleep now, and dream of the ones that came before;

They are calling from across the distant shore...

So gut wie vergessen ist das merkwürdige Gefühl, ganz allein in diesem fremden Haus zu sein. Alle meine Mitsänger und auch Patrick, der es geschafft hat, einen Haufen Weiber (und drei Kerle) zwölf Stunden lang bei der Stange und überwiegend bei Laune zu halten, sind bereits auf dem Heimweg, während ich noch auf Johannes warte.

Meine Nervosität ist unbeschreiblich.

Während meine Hände wie ferngesteuert die richtigen Tasten finden und die schwermütige Melodie mich einhüllt, sind meine Gedanken bei ihm. Wie wird er heute drauf sein? Infantil und zu dummen Scherzen aufgelegt? Düster und distanziert? Oder mal wieder ganz der Gentleman von Welt? Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als abzuwarten und mich dann schleunigst auf das einzustellen, was mich erwartet. Noch nie ist mir ein Mensch begegnet, der derartig schwer zu durchschauen oder vorherzusehen war.

Eine Welle der Unsicherheit und Besorgnis überflutet mich, als mein Blick mein neben der Tür bereitstehendes Gepäck streift. Es ist sozusagen die Manifestation meiner Inadäquatheit. Ein Rollkoffer, dem man seine Herkunft als Werbegeschenk deutlich ansieht, die Handtasche ein billiges Plagiat, erworben auf einem türkischen Souk und obenauf die selbst gefaltete Box aus einfachem, weißen Papier. Abgesehen von dem peinlichen Gepäck ist es deren Inhalt, welcher mich ein wenig beklommen sein lässt. Sie enthält eine etwa anderthalb Meter lange Kette aus kleinen, in stundenlanger Kleinarbeit aus schmalen Papierstreifen gefertigten, weißen und roten Fröbelsternchen und naturbelassenen Holzperlen. Immerhin haben wir tatsächlich schon Advent. Und seine möbliert gemietete Wohnung ist zwar grundsätzlich ganz schön, aber total seelenlos. Ja, ja, ich weiß. Männer haben es in der Regel nicht so mit Dekokram. Und erst recht nicht mit weihnachtlichem. Wobei ich ja die Theorie vertrete, dass sie es durchaus mögen, das jedoch nicht zugeben können... Aber die Vorstellung, dass er so lange nichts Schönes von den nahenden Feiertagen mitbekommt, bis er zu seiner Familie in die Heimat fliegt, finde ich schrecklich. Was also tun? Zumal es nichts auffällig persönliches sein darf, damit seine Freundin, wenn sie ihn besuchen kommt, keinen Verdacht schöpft. Also brauchen wir etwas relativ schlichtes, unverfängliches, trotzdem für ihn und mich bedeutungsvolles - und es darf möglichst so gut wie nichts kosten, weil das alljährliche Familien-Weihnachtskontingent eigentlich schon komplett verplant ist. Was schenkt man einem Mann, der sich alles kaufen kann, was er will? Abgesehen von mir selbst... Zumal ich ihm sowieso schon mehr gehöre, als er auch nur ahnt. Und mich in Dessous mit einem Schleifchen versehen selbst als Geschenk zu präsentieren, ist definitiv nicht mein Stil. Nun liegt das Produkt einiger fast schlafloser Nächte - wer hat schon tagsüber Zeit für solche Dinge? - in der weißen Papierschachtel und macht mich zusätzlich nervös. Keine Ahnung, ob er so etwas grundsätzlich mag. Ich weiß genau, dass er zu höflich ist, mich auszulachen oder etwas Negatives dazu zu sagen. Aber ich habe Angst vor dem kurzen Überraschungsmoment, in dem man in seinem Gesicht sehen kann, was er denkt. Vielleicht wäre es ja besser, einfach nicht dabei zu sein, wenn er es öffnet. Abwarten... Das wird sich schon irgendwie finden...

Zu seinen FüßenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt