wahre brüder, oder doch nur fremde?

0 0 0
                                    

Natürlich geht es dem Gefängnissystem darum zu bestrafen. Oder darum ein paar wirklich gefährliche Leute von der Straße zu holen. Aber vor allem geht es darum, deine Autorität zu brechen. Draussen, in deiner Siedlung, bestimmst du, wo es langgeht, du bist dein
eigener Herr, vielleicht hast du sogar was zu sagen, autoritet. Aber im Knast bestimmen Andere, was du tust, wann du es tust und natürlich: Wo du es tust. Bis ins kleinste Detail wird dein Tag getaktet: Du wirst um sechs Uhr geweckt, um sieben geht's zur Arbeit, um zwölf Essen, um vier Abendbrot, Hofgang, Sport. Und um acht Uhr abends heisst es dann wieder „Einschluss!"
Aber ich wusste, dass meine Zeit hier drin begrenzt ist, drei Jahre ist nicht nix, aber man kann es aushalten. Anderen geht es da deutlich schlechter. Ich hatte einen Mithäftling, den ich eigentlich gut leiden konnte, der mich aber immer ein bisschen runter gezogen hat. Mit so einem traurigen Blick, immer am seufzen. Beim Hofgang immer mit dem Kopf im Nacken, der Blick in den Wolken. Dieser
Typ tat mir natürlich leid, aber es nervte auch - du musst dich selbst schon darum bemühen, den Mut nicht zu verlieren und dann läuft jemand neben dir und erzählt dir, wie scheiße alles ist. Aber ich merkte auch, dass er ein offenes Ohr brauchte, also tat ich ihm den Gefallen, „Bruder, was ist denn los?"
Ach" seufzte er.

Innerlich hatte ich da wieder auf Flugmodus geschaltet, aber als er loslegte, machte ich mir doch bisschen sorgen.

Er sagte, dass er am Anfang noch die Tage zählte, versucht hatte, eine Struktur zu behalten. Aber nach und nach, als er realisierte, dass er hier bleiben würde, zerfiel alles, löste sich auf. Die lage wurden Wochen, beim Hofgang wurde es immer schneller dunkel. Die Luft kühlte ab und schmeckte nach Laub. Es wurde Winter, es wurde wieder Frühling, es wurde Sommer. Warm, kalt, hell,
dunkel - das war seine neue Leiteintellung geworden.

Und er wusste, dass diese Zeiteinteilung noch eine ganze Weile so weiter gehen würde, denn er war zu vielen, langen Jahren verurteilt worden. Das wäre der Moment gewesen, wo ich hätte abbrechen müssen, aber er sprudelte immer weiter. In seinem Kopf war er die Umstände seiner Inhaftierung Immer wieder durchgegangen und fand keinen Frieden, erzählte die Geschichte Jedem, der nicht
schnell genug das Weite suchte.

Er erzählte mir, dass er draussen gedealt hatte. Dieses Business hatte er sich mit einem Freund
aufgebaut: Seinem besten Freund. Befreundet seit ihrer gemeinsamem Kindheit in dem Jenaer Plattenbaugebiet, das man schon von weitem auf der Autobahn sieht.
Wenn man die Beiden traf, hielt man sie für Brüder, so vertraut wirkten Beide. Und sie spiegelten sich gegenseitig, so ähnlich waren ihre Biographien. Beide im erst vor Kurzem wiedervereinigten Deutschland geboren, die Eltern fanden nach den großen
Entlassungswellen bei Carl Zeiss nur noch schwer in einen Job zurück.

Die Beiden vertrieben sich die Langeweile auf der Straße, umgeben von einer feindlichen Umwelt, von bellenden Hunden, drehten beide auf ihren BMX-Bikes ihre Runde zwischen den Blocks. Während die anderen Kids aus der Siedlung bei Hardtrance oder den Onkelz landeten, entdeckten die beiden bald HipHop für sich und waren elektrisiert - endlich eine Sprache für ihre Lebensrealität, der
Soundtrack ihrer Verschworenheit und fürs Scheisse bauen. Über die Musik kamen sie zum Kiffen, keiner der beiden wusste mehr, wer den ersten Fünfer Gras zu ihrem Treffpunkt an einer Industriebrache mitbrachte, aber Beide waren sofort begeistert. Gras, das war
wie Ferien für die Hosentasche. Der ganze Tag wurde besser, heller, wärmer. Man konnte stundenlang durch die Gegend streifen und fand doch immer etwas Interessantes. Wenn man abends nach Hause kam, reichten ein paar Augentropfen, aber man musste nicht wie bei Alkohol mit Parfümspritzern und
Kaugummis arbeiten sondern konnte schnell und unbemerkt ins Zimmer verschwinden.

Natürlich waren die Zeiten, in denen ein Fünfer reichte, schnell vorbei. Ihr Konsum steigerte sich, denn um wieder in die gelassene Sommerferienstimmung der ersten, krumm und schief gebauten, Tüten zu kommen, brauchten sie mehr Weed. Dafür reichten dann schnell weder das kleine Taschengeld, noch
der Aushilfsjob im Lager eines Getränkemarktes. So beschlossen die Beiden, ein bisschen zu verticken, zunächst um den eigenen Konsum zu finanzieren. Der Dealer, der sie vorher versorgt hatte, konnte ein paar motivierte Läufer gut gebrauchen. Die Beiden
Waren bestens vernetzt, kannten die anderen jungen Leute in den Wohnungen über und unter ihnen, die Schüler auf dem St. Antonius Gymnasium und die angehenden Krankenschwestern an der BBS, die nach der Nachtschicht besser mit einer kleinen Tüte einschlafen konnten.

Sie begriffen, dass das ihr größtes Kapital war. Ihr Ticker hatte immer weniger eigene Kunden und sie fingen an, eigene Quellen zu organisieren. Sie knüpften Kontakte zu Vietnamesen, die in Tschechien riesige Indoorplantagen in heruntergekommenen Bauernhöfen betrieben, und bald rasten sie mit den ersten großen Päckchen über die A4.
Ihr Geschäft lief gut, die Beiden waren längst nicht mehr die kleinen Kiffer aus dem Block. In den Clubs drehte man sich nach Ihnen um, wenn sie feiern gingen. Das Geld saß locker. Zum Kiffen war natürlich im Laufe der Zeit noch alles mögliche Andere gekommen, alles was wach macht, schnell macht und das Ego wachsen lässt. Und dann zogen sich die Risse durch ihre Freundschaft: Am Anfang
noch haarfein. Sie hingen nicht mehr jeden Tag miteinander ab. Arbeit und Freizeit soll man ja trennen, und ihre gemeinsame Zeit beschränkte sich mehr und mehr auf die Autofahrten über die Grenze, das Abpacken, das Weitergeben. Und dann wurden die Risse größer und mit Ihnen kam die Paranoia. Beide
misstrauten sich zunehmend: Hatte der Eine ein Nebenbusiness mit irgendwelchen Rockern gemacht? Bezog der Andere aus neuen Quellen und wirtschaftete in die eigene Tasche?

Ich atmete aus. Der Hofgang war jetzt fast zu Ende, ich wusste, dass er langsam an den Kern der Geschichte kam, der Grund, warum er hier drin war. Er räusperte sich, dann nuschelte er:
„Und dann war das Gras weg!" Ihr gemeinsames Depot, in einem todsicheren Versteck in einem alten Luftschacht in der
Industriebrache, auf der sie ihre ersten Joints geraucht hatten, war einfach leer.

Keiner ausser ihnen Beiden kannte das Depot, es war ihre Rückversicherung, falls es zu einer
Hausdurchsuchung gekommen wäre. Wutentbrannt rief mein Mitgefangener seinen Freund an, bestellte ihn an die Brache, er müsse reden! Kurze Zeit später traf sein ältester Freund dort ein - sofort
überschütteten sie sich gegenseitig mit Vorwürfen. Der Frust der letzten Monate, das Misstrauen entlud sich in diesem Streit. Beide hatten sich vorher einige Bahnen gelegt, eigentlich weil sie den Streit fürchteten, der ihnen bevorstand und das Ende ihrer Freundschaft bedeuten könnte. Aber Beide waren enthemmt. Auf dem leeren Gelände war weit und breit Niemand, der sie hätte hören
können. Also schrien sich sich weiter an, beschimpfen sich, schubsten sich.

„Und dann habe ich rot gesehen" sagte er mir, während wir unsere letzte Runde über den Hof machten. Weiße Blitze vor den Augen, durchströmt von Hass und Wut und Verzweiflung. Als er wieder bei Sinnen war, war es still. Er schaute auf den Boden. Dort lag sein Freund, ganz still und ruhig, ein
schmaler Strom Blut rann aus einer Wunde an der Stirn, neben ihm ein großer Stein.
Verzweifelt versuchte er, seinen Freund wieder aufzuwecken, schüttelte ihn, versuchte ihn zu reanimieren

Er rief den Krankenwagen, die konnten nichts mehr tun, ausser die Polizei zu rufen. Wiederstandslos liess er sich festnehmen. Er wurde wegen Totschlag und Drogenhandel in nicht geringer Menge angeklagt. Er nahm das urteil völlig regungslos an.

Das verschwundene Weed war nie wieder aufgetaucht, vielleicht hatten es spielende Kinder entdeckt und die komisch riechenden Blätter in der Gegend verstreut, vielleicht war es einem der Obdachlosen, die manchmal in den Ruinen schliefen, in die Hände gefallen. Aber sein Freund hatte es wohl nicht geklaut.

Ihm war eh alles egal geworden. Seine Familie wandte sich ab, die Familie seines Freundes, seine Eltern, bei denen er als Kind so viele Tage am Mittagstisch gesessen hatte, konnten ihm nicht verzeihen. Und deshalb quälte er sich so, es war weder die Haftstrafe noch das Urteil, innerhalb einer Sekunde hatte ein
Aussetzer sein ganzes Leben zerstört. Er spielte diesen Abend an der Industriebrache immer wieder in seinem Kopf durch, wie ein Zeitreisender. Stellte sich vor, wie er vielleicht nicht vorher gekokst hätte stellte sich vor, sein Handy hätte kein Empfang gehabt und er hätte seinen Freund nicht erreichen können. Wünschte sich, dieser wäre im Stau stecken geblieben, so dass es nie zu ihrem letzten
Gespräch gekommen wäre. Aber es half nichts: Am Ende der Uberlegungen sah er immer wieder sich, den Stein und seinen regungslosen Freund, gebettet auf Moos und Trümmern.

Das war für ihn die wahre Strafe gewesen, er war nicht gefangen im Gefängnis sondern in seinen Erinnerungen und der Gewissheit, den Menschen, der immer ein Bruder für ihn war, getötet zu haben.

Schweigend verschwand er in seiner Zelle, alleine mit sich und der Hölle, die in seiner Brust brannte.

Fast life Where stories live. Discover now