Kapitel 6

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"Xenon, bitte, wir können nicht hierbleiben."

Anexius Warnung stieß auf taube Ohren. Ich schenkte ihm keine Beachtung, während ich auf dem nassen Sand hockte, die Knie an die Brust gezogen, die Arme eng um mich geschlungen. Mein Blick ging zum endlosen Meer, und nach jedem Blinzeln hoffte und betete ich, die Insel zu sehen, doch jedes Mal, wenn ich meine Augen wieder öffnete, sah ich nichts, als die Weiten des Ozeans.

Die Trauer schien mich schier zu ersticken. Ich wollte mich nicht rühren. Mir war alles egal.

Alle meine Leute waren tot. All die Anbeter, die ich zu lieben und verehren gelernt hatte. Die Männer, die meinem Altar in meinem heiligen Tempel Opfergaben darbrachten. Die Frauen, die zu meinen Ehren getanzt und Lieder geschrieben haben. Die Kinder, die lachten und einander im Tempel jagten. Die Vögel, die auf den Statuen saßen, selbst die Insekten, die anhielten, um sich auszuruhen.

Und meine Familie. Alle meine Brüder und Schwestern. Mein Vater, meine Onkel, meine Tanten, einfach alle. Sie hatten alle aufgehört zu existieren. Es blieb nur noch eine innere Leere. Kalt und dunkel. Ich streckte meine Fühler aus, in der Hoffnung, mindestens einen Überlebenden auszumachen, aber die einzige atlantische Lebenskraft, die ich spüren konnte, war die in meiner Nähe, Anexius. Er stand direkt hinter mir und versuchte, mich zum Gehen zu bewegen.

Hinzu kommt, dass er recht hatte. Hier zu bleiben, wäre Selbstmord.

Wenn die Griechen uns auf ihrem Land entdeckten, würden sie das als Kriegshandlung ansehen. Eine Kampfansage für die großen Götter, jedoch konnte mich kein Stück rühren. Es war mir egal, ob die Griechen mich vernichteten.

"Xenon, Bruder", sagte Anexius sanft und berührte meine Schulter. Ich zuckte vor ihm zurück und er verzog das Gesicht. Er ging auf mich zu, ich jedoch krabbelte durch den Sand vor ihm weg, rappelte mich auf und funkelte ihn hasserfüllt an. Meine Faust schoss hoch, doch er wich mir aus, packte mich am Handgelenk und zog mich an seine Brust, während ich mich wand, um ihn zu schlagen.

"Lass mich los!", knurrte ich, die Stimme heiser vom Schreien. Meine Knöchel schmerzten noch immer von den Schlägen, die ich seinem Gesicht verpasst hatte, was mich allerdings ärgerte, war, wie schnell sein Gesicht geheilt war. Er versuchte, meine Handgelenke an meine Brust zu drücken.

"Xenon, bitte hör auf damit. Egal wie sehr du mich schlägst, hasst oder weinst, sie werden nicht mehr zurückkommen. Sie sind weg. Und ich habe meine Seele nicht verkauft, damit du durch die Hände dieser griechischen Schweine stirbst", fauchte Anexius und biss die Zähne zusammen, "wir müssen an einen sicheren Ort gehen."

"Wo ist es denn sicher", schrie ich wütend und wand mich in seinem Griff, "Es ist nirgendwo sicher! Hast du mir nicht zugehört?! Die Griechen hassen uns und den Ägyptern sind wir völlig egal! Du hast uns verdammt!" Anexius sagte nichts dazu, ließ mich auch nicht los, als er anfing, mich durch den Sand hinunter zum Strand zu zerren. Ich trat und wand mich auf halbem Weg, bis ich aufgab und ihm widerwillig folgte. Die ganze Zeit über, starrte ich auf Anexius Rücken, während ich darüber nachdachte, wie ich ihm ein schnelles Ende bereiten könnte. Doch jedes Mal, wenn mir der Gedanke durch den Kopf ging, ließen meine Schuldgefühle und ein aufkommender Schmerz in mir es nicht zu.

Ich verabscheute Anexius über alles. Er hatte mir alles genommen. Meine Familie, meine Anbeter, mein Zuhause. Einfach alles. Und doch war er trotz all dieser schrecklichen Taten, die er begangen hatte, noch immer mein Bruder. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, einen Dolch zu zücken und es ihm in den Rücken zu rammen.

Und das, war der größte Schmerz von allen.

Ich erwachte scharf keuchend, als ein kaltes Kribbeln meinen Rücken hoch und runterlief. Die Zähne zusammenbeißend, packte ich meine Decken und ballte die Fäuste, bevor ich mich zur Seite rollte und mich auf einen Ellbogen stützte, um auf die Uhr zu schauen. Es war sechs Uhr morgens. Wer in drei Teufels Namen beschwört mich um sechs Uhr in der Früh? Ich blinzelte ein paar Mal und sah mich in meinem Zimmer um. Es war noch immer dunkel, nur ein schwacher Schein drang von draußen herein. Müde seufzend, stemmte ich mich aus dem Bett und ging die Ereignisse der letzten Nacht nochmal durch.

Nachspiel [malexmale] (Übersetzung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt