«Quer durch den Düsterwald, nur weil ein Vogel behauptet, dass er uns führen könne? Das ist Wahnsinn!», rief Langfinger aus, nachdem ich ihm von Koraks und meinem Entschluss berichtet hatte.
«Korak ist ein Rabe und ich vertraue ihm.»
Langfinger lachte humorlos. «Du bist wahnsinnig, Cal, wenn du das auch nur in Erwägung ziehst. Der Düsterwald ist schlimm genug, wenn man ihn auf einer der Strassen durchquert.»
«Wahrscheinlich ist er weniger schlimm als sein Ruf. Ich bin schon in vielen Gegenden gewesen, die sich als weniger schlimm herausgestellt haben, als die Leute behaupteten», widersprach ich.
Langfinger schüttelte nur den Kopf. «Man merkt, dass du nicht von hier kommst.»
Während des Gesprächs waren wir weitergegangen und hatten nun den Waldrand erreicht. Hier beschlossen wir zwischen ein paar Büschen ein Nachtlager aufzuschlagen und uns für den Rest der Nacht auszuruhen. Korak würde in der Zwischenzeit über den Düsterwald fliegen und nach einem geeigneten Weg Ausschau halten. Kaum hatte ich meine Decke ausgebreitet und mich hingelegt, schlief ich auch schon ein.
*****
Dirren sah hinunter auf den schlafenden Mann. Eigentlich war er mehr ein Junge als ein Mann. Keinerlei Anzeichen von Bartstoppeln und so dürr und schmächtig und die kindlichen Gesichtszüge. Was hatte dieser Junge nur ausgefressen, um in den Verliesen der Zwerge zu landen? Es war seltsam, irgendwie fühlte er sich für den Jungen verantwortlich. Immerhin hatte der ihn aus den Kerkern befreit. Dirren fragte sich noch immer, wie der Junge es eigentlich geschafft hatte, sich zu befreien. Vielleicht war er schlank genug gewesen, um sich durch die Gitterstäbe zu quetschen, dachte er schmunzelnd. So jemand wäre sicher ein nützlicher Weggefährte. Vor allem für einen Dieb wie ihn. Der Junge würde an so einige Dinge herankommen, die für ihn unerreichbar wären. Dirren schüttelte den Kopf. Er musste diese aufkeimenden Gefühle verdrängen. Ja, vielleicht sollte er sich einen jungen Mann suchen, der ihm behilflich sein konnte, doch Cal war dazu definitiv nicht geeignet. Der Junge hatte einen zu starken Willen. Egal was Dirren sagen würde, dieser Sturkopf würde den Weg mitten durch den Düsterwald einschlagen und sich dabei auf die Führung eines Raben verlassen. Eines Raben! Der Junge glaubte, er könne mit Vögeln sprechen. Er musste verrückt sein. Das war es: Cal war verrückt. Und deshalb konnte Dirren auch nicht mit ihm mitgehen, so einfach war das. Er erhob sich und rollte seine Decke zusammen, griff nach seinem Rucksack, band die Decke fest und schulterte ihn. Er hatte sich bereits einige Schritte von dem schlafenden Jüngling entfernt, als er innehielt und zurückschaute. Mit wenigen Schritten ging er neben Cal in die Knie und griff nach seinem Rucksack. Mit geübten Griffen und so leise, wie es nur mit langjähriger Erfahrung möglich war, räumte er den Rucksack aus. Den Proviant, den Wasserschlauch, darunter die beiden Karten, die von den Zwergen und die andere, seltsame Karte – allerdings bezweifelte Dirren, dass sie wertvoll genug war, um sie zu verkaufen – ein paar Kleider zum Wechseln, darunter dicke, warme Winterkleidung. Langfinger fragte sich, weshalb Cal Winterkleidung mit sich herumschleppte, schliesslich hatten sie Frühsommer. Damit war der Rucksack leer, mal abgesehen von ein paar Krümeln vertrockneten Brots, die wohl schon länger in dem Rucksack gelegen hatten. Das konnte doch nicht sein. Dirren drehte den Rucksack um und schüttelte ihn und tatsächlich, mit einem leichten Klirren fiel eine Geldbörse aus einem Seitenfach des Rucksacks. Dirren fing sie geschickt auf, bevor sie laut klirrend auf den Boden treffen konnte, und schaute hinein. Es waren nur ein paar wenige Kupferstücke und eine einsame Silbermünze darin. War das denn zu fassen? Dieser Junge reiste mit nichts als ein paar Kleidern, einer Karte und einigen Münzen von geringem Wert. Aber Dirren war nicht gewillt, sich mit den paar Münzen zufrieden zu geben und tastete den Rucksack weiter ab und bald ertastete er etwas, dass zwischen die Stoffschichten eingenäht sein musste. Er zog ein schmales Messer aus seinem Stiefel und trennte eine Naht nahe des Gegenstands auf, bevor er mit zwei Fingern danach fischte. Es war ein Brief. Ein zusammengefaltetes Stück Pergament, verschlossen mit einem blauen Siegel. Die Prägung kannte Dirren nicht, doch sie sah wichtig aus. Auf dem Pergament standen einige geschwungene Schriftzeichen, die Dirren jedoch nicht lesen konnte. Zwar konnte er lesen – jeder Dieb, der etwas auf sich hielt, konnte das; allein deshalb schon, damit ihm nicht eine mögliche, gute Gelegenheit entging – doch diese Schriftzeichen waren ihm fremd. Trotzdem beschloss Dirren den Brief mitzunehmen. Wieso sollte man einen Brief in einen Rucksack einnähen, wenn er nicht wirklich wichtig war? Und wohl auch streng geheim. Wenn er an den richtigen Mann kam, würde Dirren das Schreiben sicher für teures Geld verkaufen können. Kurzerhand steckte er den Brief ein und gleich auch die Geldbörse. Dieb war Dieb. Dann räumte er den Rucksack wieder ein und machte sich aus dem Staub. Cal merkte von all dem nichts, sondern schlief selig und träumte von einem Bett zu Hause weit im Osten.
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Die blaue Zauberin (LotR FF)
FanfictionEine Herr der Ringe Fanfiction einmal anders Cal wird von ihrem Vater, dem blauen Zauberer Alatar, aus Cuivienen fortgeschickt nach Westen, um dort eine Istari zu werden. Doch die Reise verläuft nicht wie geplant: aus den Fängen der Orks geht es dir...