Kapitel 1. Schwarze Weihnachten

13 0 0
                                    

Am 24. Dezember 1999 wütete ein gewaltiger Schneesturm namens „Mary" über Alberta. Dem Großteil der Baumärkte waren die Schneeschaufeln ausgegangen und das Streugerät des Winterdienstes war im Dauereinsatz, die Straßen vor der Glätte zu bewahren. Mitten in einer langsam kriechenden Autokolonne, die sich auf dem verstopften Highway gebildet hatte, fuhr ein tannengrüner Jeep mit etwa zehn Stundenkilometern Richtung Rocky Mountains. In diesem Geländewagen saß ein junges Paar, das sich die Weihnachtsstimmung nicht durch das schauderhafte Wetter vermiesen lassen wollte. Gravity Siverston und ihr Freund Henri Marsburg hatten die letzten zwei Stunden, in denen sie gefühlte zwanzig Meter zurückgelegt hatten, damit verbracht, stimmungsfördernde Weihnachtsmusik aus dem Radio zu hören. Zwischendurch berichtete eine rauschende Stimme aus den Lautsprechern des Geländewagens über landesweite Stromausfälle und zwei Todesopfer in Folge des Sturms „Mary." Das junge Paar ahnte jedoch nicht, dass der Tod sich auch an ihre Fersen geheftet hatte. Auf dem Beifahrerplatz zog die schwitzende Grave ihren dunkelblauen Wollschal vom Hals und er landete schließlich auf der Rückbank. Dort verweilten auch schon die Jacken, Mützen und Pullover der beiden, aus denen sie sich die letzten Stunden Stück für Stück geschält hatten. Henri hatte das Lenkrad losgelassen, seine Hände seufzend im Schoss gefaltet und den Kopf in den Nacken gelegt, das Autofenster im Zwei-Minuten-Takt öffnend und schließend. Seine hellgrünen, wachen Augen waren nun nicht mehr auf die Straße gerichtet, sondern wanderten nach Unterhaltung suchend zu Grave. „Nicht schon wieder dieses Lied", stöhnte er und drehte das Radio leiser. „Mir ist heiß", beschwerte sich Grave, die keine andere Beschäftigung fand, als ihren dunkelblonden Pferdeschwanz zu lösen, neu zu binden und die wirbelnden Flocken vor der Heckscheibe zu betrachten. Henri drückte seinen Zeigefinger auf den Fensterknopf und die Scheibe des Beifahrerplatzes fuhr mit einem langgezogenen Quietschen nach unten. Nun peitschten die Flocken direkt auf Graves Stirn, die herzförmigen Lippen und ihre Stupsnase. Einen Moment harrte Grave aus und genoß die Kälte auf ihrer Haut, dann quietschte das Fenster wieder zu.„Hast du dich nie gefragt, wer Schneestürmen eigentlich ihre Namen gibt? Ich meine, vielleicht rächt sich hier jemand an seiner Ex oder einem gemeinen Grundschullehrer... Mary fegt über Alberta hinweg und hinterlässt großes Chaos." Grave hatte Henri einen fragenden Seitenblick zugeworfen. Seine Mundwinkel schossen nach oben, er betrachtete das verwüstende Schneechaos und nickte: „Wegen Mary traut sich jetzt keiner mehr auf die Straße!" Seufzend warf Grave einen Blick auf ihre Armbanduhr und fügte hinzu: „Und wegen Mary kommen wir zwei Stunden zu spät bei der Hütte an." Auch Henri war überrascht, dass es bereits vier Uhr war. Um zwei wollten die beiden ihr Ziel, die Skihütte von Henris Familie in den Wäldern des ehemaligen Goldgräberstädchens Denridge, erreicht haben. Grave hatte bis zum gestrigen Abend unter den strengen Augen ihres cholerischen Chefs in der Klinik arbeiten müssen und so kam es, dass Henri und sie nicht wie geplant mit seinen Eltern und zwei Brüdern anreisen konnten. Obwohl es erst wenige Wochen her war, seit Grave nach ihrem Schulabschluss das Praktikum in der Kardiologie angetreten hatte, stand sie keinesfalls unter Welpenschutz. Darüber ließ sich jedoch schnell hinwegsehen, denn es gab nichts, was Grave begieriger anstrebte, als eines Tages selber einen weißen Kittel zu tragen und als Ärztin zu arbeiten. Am liebsten als Professorin für Virologie, vielleicht auch Neurologie. Ihre Ambitionen forderten bereits ein paar Opfer, und die wetterbedingte Verspätung gehörte auch dazu. „Wenn ich einen Sturm benennen müsste, dann würde er Lorane heißen", offenbarte Grave und stellte sich den Gesichtsausdruck ihrer empörten Mutter vor, wenn ihr heiliger Vorname mit einer Naturkatastrophe in Verbindung gebracht werden würde. „Oh, ich auch", zischte Henri eifrig nickend. Kurz vor der Abfahrt hatten sich Grave und ihre Mutter einen Streit geliefert, der so heftig war, dass er wahrscheinlich den landesweiten Schneesturm ausgelöst hatte. Lorane war mit verschränkten Armen in der Einfahrt gestanden und hatte ihrer Tochter den Weg zum Fahrzeug blockieren wollen. Glücklicherweise war Grave vor einem Monat volljährig geworden und nun endlich nicht mehr den Stimmungen ihrer Mutter ausgeliefert. Lorane hatte über Weihnachten ursprünglich eine Reise mit ihrem Kurzzeit-Lover Ralph geplant, als der sie hat kurz davor sitzen lassen (was Grave nicht wunderte) und Lorane sich daran erinnerte, dass sie ein Kind hatte, das sie unter Zwang bespaßen und ablenken sollte. Für sie wurde Grave zumeist dann interessant, wenn in Lorane das Bedürfnis nach Anerkennung aufkam oder sie ihr streitbares Temperament an einem ungerechten Lehrer oder einer hinterhältigen Klassenkameradin ausleben konnte. Für Grave war das nur in etwa zwei von zehn Fällen von Vorteil. Nun, am Morgen dieses Tages, wurde urplötzlich aus einem bereits abgenickten Trip ein: „Was denkst du undankbares Kind dir dabei, mich über Weihnachten alleine sitzen zu lassen?" Grave war dieses Mal der Kragen geplatzt und sie hatte Lorane in atemberaubender Geschwindigkeit und Lautstärke alles an den Kopf geworfen, was sich über die letzten Monate aufgestaut hatte. Sogar der Kater von ihrer grimmigen Nachbarin Mrs. White hatte sich auf das Fenstersims gesetzt und gespannt zugesehen, wie Lorane anschließend mit ihren hysterischen Schreien ganz Sternville zum Beben zu bringen schien. Henri, der geduldig warten wollte, war irgendwann dennoch aus dem Jeep gestiegen und hatte sich verteidigend vor seine Freundin gestellt, während er Lorane als miserable Mutter beschimpfte, und dann hatte er Grave, deren Nasenflügel bebten wie die eines Stiers, an der rot angelaufenen Lorane vorbeigeführt. Beim Losfahren hatte Henri zum Abschied auf die Hupe gedonnert und provokant gewunken. Grave war sich nun sicher, dass sie spätestens dann ein Problem haben würde, wenn der Skiurlaub in Denridge vorüber war und sie wohl oder übel zurück in die Höhle des Löwen müsste. Vielleicht konnte sie notfalls in die Hundehütte von ihrem verstorbenen Labrador Chuck einziehen. Eventuell gab es auch noch ein freies Zimmer in der Washington-Villa ihres Vaters, doch da war Grave zweifelsfrei noch weniger willkommen. Nicholas und seine neue Frau Judith wollten ihre beiden kleinen Töchter nicht in der Nähe eines Ungeheuers haben, und alles, was mit Lorane verwandt war, war für Nicholas ein Ungeheuer. An Weihnachten und Geburtstagen schenkte er seiner ältesten Tochter dennoch jedes Mal einen provisorischen Gutschein von hundert Dollar und wenn er alle paar Monate anrief, tat er so, als wäre er nur zu beschäftigt, um sie zu besuchen. Einen Vorteil hatte diese klägliche Beziehung für Grave: Wann auch immer sie Rechtsfragen hatte, konnte sie ihrem Vater schreiben und es war Nicholas dabei völlig egal, in welche Situationen sich sein Kind diesmal verstrickt hatte. In ihrem letzten Schreiben wollte Grave wissen, ob sie wirklich eine Strafe zahlen musste, weil sie in Texas barfuß auf einem Weg zu ihrem Hotelzimmer lief, und in der Mail davor hatte sie sich Informationen zur Verweigerung eines Strafzettels geholt. Nicholas hatte immer verspätet geantwortet, hegte jedoch nie Interesse, warum Grave das überhaupt wissen wollte. „Hat Lorane dich wieder mit Nachrichten bombardiert?", fragte Henri mit besorgtem Blick zum Beifahrerplatz, als Grave ihr brandneues Mobiltelefon anschaltete. Zu ihrem Geburtstag hatte sie von Lorane ein Nokia 9000 Communicator geschenkt bekommen, aber das Problem dabei war, dass ihre Mutter sich selber ebenfalls ein Exemplar besorgt hatte. Es hatte nicht lange gedauert, da hatte Lorane die Nachrichtenfunktion für sich entdeckt, und sie war sehr schnell und professionell darin geworden, sämtliche Texte an sämtliche Menschen zu verschicken. Wer auf ihrer Streit-Liste stand, musste sich darauf gefasst machen, in der Adventszeit mehr SMS zu bekommen als es Türchen im Adventskalender gab. Auch Graves Nokia machte jetzt plötzlich so viele Piepstöne wie der Auftakt zu einem Song, als eine Nachricht nach der anderen eintraf. Stumm begann sie zu lesen: Ich lade die Marsburgs übrigens auch nie wieder zu einem meiner Feste ein, denn man sieht ja anhand meiner fehlenden Einladung zu ihren heiligen Festtagen, wie viel ihr Geschwafel von Familienzusammenhalt wirklich bedeutet. Grave öffnete die nächste SMS und las: Und wenn du zurück bist, kannst du dein Essen künftig selber zahlen. Es folgten noch einige Anschuldigungen, doch Grave hätte Schlimmeres erwartet. Gerade als sie davon ausging, die letzte Nachricht sei eingegangen, piepte ihr Handy erneut: Ralph hat mir gerade geschrieben, dass er doch noch einmal telefonieren möchte! Habe mir schon gedacht, dass er sich noch einmal meldet und Reue zeigt. Hab Spaß in Denridge, grüß die anderen und ruf an, wenn ihr da seid! Jetzt kam das innere Bild in Grave auf, wie ihre Mutter nach dem Anruf mit Ralph, der wahrscheinlich nur seine Gitarre vergessen hatte, zuhause schluchzend zwischen den teuren Larané-Kissen der Sofalandschaft alleine zu Last Christmas sang und unzählige Weingläser kippte. Grave versuchte, das schlechte Gewissen aus ihrem Kopf zu drängen. „Unwichtig", winkte sie ab und stellte das Handy wieder in den Flugmodus. Sie sehnte sich danach, ihre Glieder zu strecken und von dem überhitzten Sitz aufzustehen, denn die Sitzheizung schien nicht mitbekommen zu haben, dass sie bereits vor einer halben Stunde ausgeschaltet worden war. Während die Haut unter ihrem Polyester-Unterhemd langsam von der Hitze zu Jucken begann, wurden die Abstände zwischen den Fahrzeugen größer und es ging wieder voran. Bald schon färbte die Dämmerung Albertas weiße Winterlandschaft in ein dreckiges Grau. Die Scheibenwischen schoben im Sekundentakt Schneeflocken von der Frontscheibe und die Scheinwerfer warfen helle Lichtkegel auf die Serpentinen, die sich steil und slalomartig zur Hütte schlängelten. Henri lenkte den Jeep konzentriert Kurve für Kurve das Gebirge aufwärts, bis sie schließlich einen ebenen Wald erreicht hatten. Mittendrin, unter mächtigen Tannen, über die sich eine weiße Decke ausgebreitet hatte, stand die zweistöckige, frisch renovierte Hütte der Marsburgs. Grave staunte mit großen Augen, als Henri den Wagen vor der geschlossenen Garagentür parkte. Sie war nie zuvor hier gewesen, denn obwohl die Marsburgs die Hütte bereits seit fünf Jahren besaßen, kamen sie nur von Dezember bis Februar her und Grave war bei der letzten Einladung kurz vor Aufbruch von einer üblen Grippe heimgesucht worden. Beim Aussteigen ging sie jetzt fröstelnd um den Jeep herum zum Kofferraum, doch Henri reichte ihr rasch den Haustürschlüssel. „Ich mach schon, du kannst reingehen", bot er an und Grave versank bald darauf bei jedem Schritt zur Tür bis zu den Knien im tiefen Schnee. Henri schob sich, die Koffer und Ski über der Schulter schleppend, an Grave vorbei durch die Türschwelle und stellte das Gepäck mit einer unerwünschten Menge Schnee in den Eingangsbereich. „Es ist so kalt", bibberte er, und auch Grave klebte die Jeans nach dem kurzen Marsch durch die zugeschneite Einfahrt kühl und nass an den Unterschenkeln. Bevor sie ganz eintrat, klopfte sie auf der Fußmatte den Restschnee von ihren klobigen Schuhen. Aus dem Inneren der Hütte schlug ihnen ein aromatischer Duft nach Orangenplätzchen und Lebkuchen entgegen. Ein bisschen schwüle Heizungsluft schwang auch mit, aber darüber ließ sich schnell hinwegsehen.„Wir sind da!" Henris muntere Stimme erfüllte die ganze Hütte und so dauerte es keine fünf Sekunden, da sausten trapsende Kinderfüße die Treppe nach unten. Valentin, Henris achtjähriger Bruder, stürmte mit seiner üblich Ladung Energie auf Grave zu und schlang die Arme um sie. Valentin hatte den größten Teil seines Lebens damit verbracht, flink durch die Gegend zu huschen und überall ein buntes Chaos zu hinterlassen, weswegen seine beiden großen Brüder die braunen Kulleraugen, die kindlichen Pausbäckchen und das breite Zahnlücken-Grinsen ganz und gar nicht mehr niedlich fanden. Grave hingegen störte es nicht sonderlich, wenn sie einen Fußball an den Kopf bekam oder ihr Trommelfell bei seiner grellen Kinderstimme fast platzte. Auch dieses Weihnachten würde mit Sicherheit voll von derartigen Momenten sein. „Wir haben Plätzchen gebacken!" Ohne Henri eines Blickes zu würdigen griff Valentin nach Graves Ärmel, zog sie ruckartig hinter sich her in einen gemütlichen Flur und rief: „Im Ofen! Ich zeig' sie dir!" „Und ich werde nicht begrüßt?", grinste Henri mit vorgeschobener Unterlippe und folgte den beiden. Über malerischen Tapeten und Holzverkleidungen hingen goldene Hirschgeweihe, Familienaufnahmen in Holzrahmen und rostfarbene Wandleuchten warfen helle Strahlen in den Flur. Beim Eintreten ins Wohnzimmer sah Henris Vater Richard, der vor einem großen Computer neben dem Kamin saß, freudig auf. Als Grave noch vor der herzlichen Begrüßung damit begann, sich für die Einladung zu bedanken, winkte er souverän ab: „Das ist doch selbstverständlich." Grave kannte Richard vorwiegend in Hemd und Anzughose, doch an diesem Abend trug er einen weiten Norwegerpullover, eine graue Jogginghose und dicke Wollsocken. Damit sah er viel weniger nach Chefarzt und mehr nach Familienvater aus.„Ich muss noch einen Patientenbericht fertigstellen, dann ist die Arbeit ganz fern und Weihnachten kann kommen", erklärte Richard mit einem entschuldigenden Lächeln, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm widmete. Valentin zerrte Grave vorbei an einem knisternden Kamin mit loderndem Feuer hinüber in die angrenzende Küche. In den zwei Minuten war bereits eine beeindruckende Menge an Information aus Valentin gesprudelt: Von seinem Wissen darüber, dass es den Weihnachtsmann in Wahrheit gar nicht gab, bis hin zu der Tatsache, dass sie vielleicht eingeschneit werden würden. Grave versuchte angestrengt zu folgen und auf den Überfluss an Informationen einzugehen, während Henri bereits Watte in den Ohren zu haben schien. In der Küche wurde Grave rasch zum Versuchskaninchen, denn dort stand Henris Mutter Birgit vor dem Herd, die dunkelbraunen Haare zu einem lockeren Zopf gebunden und rührte mit frustrierter Miene in einem Messingtopf. Nach einer innigen Umarmung hatte sie Grave den Kochlöffel vor die Nase gehalten. „Die Soße ist zu salzig, nicht wahr?", fragte sie selbstkritisch und doch lag ein hoffnungsvoller Ausdruck in Birgits großen, haselnussbraunen Augen. Auch Henri bekam eine Kostprobe von der Bratensoße, die zweifelsfrei versalzen war. Das merkte man seinem Gesichtsausdruck prompt an. „Es geht... Sie ist trotzdem lecker", flunkerte Grave, denn sie konnte Birgits bangende Augen nicht enttäuschen. „Viel zu viel Salz", fügte Henri nach einem würgenden Schlucken wahrheitsgemäß hinzu. Er hob neckisch grinsend den Arm um Birgit, sah ihr durch seine dichten Wimpern in die Augen und fragte: „Bist du verliebt?" Birgit legte sich spielerisch die Hand aufs Herz und nickte mit aufgesetzter Verlegenheit: „Du hast mich ertappt. Ich glaub', ich finde deinen Vater ganz süß. Aber psst." „Der ist aber auch süß", gestand Henri, und Valentin, der Graves Ärmel noch immer fest umklammert hielt, verzog angeekelt das Gesicht: „Das ist widerlich!" Dann zog er Grave ohne Vorwarnung von der Stelle und flitzte auf seinen bunt gestreiften Socken rutschend hinüber zum Ofen. „Guck die Plätzchen an! Ich habe sie nicht gebacken, aber dekoriert!", quiekte er aufgeregt. Während Grave so tat, als wären die nackten Kekse, auf denen ein paar einsame Mandeln lagen, ein großes Kunstwerk, sah Henri sich nach seinem großen Bruder um. „Wo ist denn Ben?", fragte er schließlich. Noch bevor Birgit antworten konnte, drang eine gedämpfte, schlecht gelaunte Stimme in die Küche: „Ich finde sie nicht!" Birgit verdrehte seufzend die Augen und kippte ihren Soßenversuch in den Abguss und schnaufte: „Er wollte den Christbaumschmuck aus dem Keller holen." Dann wandte sie den Kopf zur Tür und erhob die Stimme: „Oberste Schublade, letztes Zimmer. Das schaffst du!" Aus dem Keller ertönte ein genervtes, langgezogenes Stöhnen, in der Küche warfen alle einander vielsagende Blicke zu und Valentin flüsterte: „Julia hat sich lassen." „Sie hat sich nicht scheiden lassen, sie hat Schluss gemacht", erklärte Henri kopfschüttelnd, Valentin drückte seine Nase an die Ofenscheibe, betrachtete verliebt die Plätzchen und zischte: „Ist doch das gleiche." „Nein, wenn man sich scheiden lässt, ist man verheiratet gewesen. Ben ist zwanzig", klärte Henri auf, Grave biss sich betreten auf die Unterlippe und dachte an die vergangenen Spielabende und Kurzurlaube mit Julia, Ben und Henri. Über die letzten drei Jahre war das Quartett ein eingespanntes Team geworden und keiner hätte ahnen können, dass Julia sich ausgerechnet in ihren grauhaarigen Dozenten verlieben würde. Seit der Trennung vor zwei Wochen war Ben in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen und hatte den Campus der Universität beinahe fluchtartig verlassen, um wieder bei seinen Eltern in Sternville einzuziehen. Neben dem Studium wollte er DJ werden und hatte allen euphorisch erzählt, dass er eines Tages Millionen mit seiner Musik verdienen würde. Letzten Monat hatte Henri noch ausgerechnet, dass sein Bruder bisher ganze zwei Dollar pro Monat mit seinen Tracks verdiente und diese Information vergnügt geteilt, doch heute wünschte er sich nichts mehr, als Ben vor dem Keyboard sitzen zu sehen. „Eine Kiste mit Tannenbaumkugeln holen ist eine gute erste Aufgabe, wieder ins Leben zu finden", murmelte Birgit und alle lauschten, als Ben erneut fluchend mitteilte, dass in dem besagten Raum kein Regal sei. „Wollen wir zur Rettung eilen?", fragte Henri und warf Grave einen raschen Blick zu. „Lasst ihn noch kurz", forderte Birgit mit gesenkter Stimme, den Zeigefinger abwartend in die Luft haltend, „wenn alle ihn bemitleiden, wird es mit Sicherheit nicht besser. Tut einfach so, als wäre alles wie immer." Sie drehte den Wasserhahn auf, hielt den schmutzigen Messingtopf unter den Strahl und warf Henri einen ermahnenden Blick zu: „Aber keine blöden Kommentare oder Streitereien. Das letzte, was er jetzt brauchen kann, ist taktloses Verhalten." „Ich bin nie taktlos", röhrte Henri beleidigt und sah Grave an, als würde er auf ihre Verteidigung warten. Seiner Freundin gegenüber war er wahrlich nie taktlos gewesen, doch spöttische Kommentare waren unter den beiden Brüdern seit Jahren eine eingespielte Form des Umgangs. Dennoch waren Henri und Ben unzertrennlich. Nicht selten wurden sie für Zwillinge gehalten, denn obwohl Henris Gesichtszüge markanter waren und er um ein Vielfaches an Mimik besaß, waren sie gleich groß und hatten das selbe verschmitzte Grinsen und tiefbraun glänzende Haare. Nach ein paar verstrichenen Minuten war Ben endlich fündig geworden und kam, eine dicke, klirrende Kiste schleppend, in den Wohnbereich. Wortlos stellte er sie vor den ungeschmückten, bis zur Decke ragenden Weihnachtsbaum und begrüßte Henri und Grave mit einem müden Lächeln. Grave hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihn aufzuheitern und überredete Ben schließlich, beim Schmücken des Baumes zu helfen. 

Xenna - Kinderheim der TotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt