Die Zeitschule bildete das Zentrum von Jonny City und die Hauptstraßen aller Viertel liefen darin zusammen. Im Inneren gab es einunddreißig Klassenräume, für die je ein leitender Zeitarzt verantwortlich war. Steve Dowell, Graves künftiger Lehrer, war berüchtigt, der strengste, aber zugleich beste Zeitarzt zu sein. Er hatte die längste Ausbildung durchlaufen, die Erinnerungen seiner Schüler in Rekordzeit wiederherzustellen. Grave fiel es schwer zu glauben, dass dieses große Projekt nur dafür angelegt worden war, toten Kindern und Jugendlichen ihre vergessenen Erinnerungen aus dem vorigen Leben zu entlocken, obgleich sie nach nur einer Person suchten. Im Gegensatz zu seinen Kollegen führte Steve Dowell die Ordner seiner Schüler selber und befreite Grave damit von dem Prozess, ihr Erlebtes in den Rückbildungsklassen eigenhändig niederzuschreiben zu müssen. In seiner Klasse waren jene, die für das Imperium vielversprechender waren als andere. Zwei Mädchen, die bereits gewinnversprechende Flashbacks hatten und somit immer weiter in das Blickfeld der Verantwortlichen rückten. Ein Junge, der wiederholt einen interessanten Traum hatte. Sowie ein paar der Schüler, die Ende November auf die Welt gekommen waren. Zu ihnen gehörte auch Grave. Das Bewusstsein, nach dem die Zeitärzte suchten, war zweifelsfrei im November 1981 wieder geboren worden, Berechnungen ließen sich zwar auf das Ende des Monats begrenzen, aber das Risiko, dass der oder die Gesuchte durchrutschen könnte, wollte das Imperium nicht eingehen. Der Sekretariat-Kalea, der im Erdgeschoss der prunkvollen Villa hinter einem Tresen saß und jeden eintrug, der die Zeitschule betrat und verließ, nahm sich Grave beim Eintreten an, schwatzte mit ihr und führte sie in ihren Klassenraum im zweiten Stock. Es war eigenartig, denn Grave beschlich im Inneren des maroden Hauses nicht das Gefühl, dass die Zeitschule als Institution errichtet worden war. Es war, als befände sie sich in einem ehemaligen Wohnhaus, aus dem man alle Möbel entfernt hatte und dessen Wände eine lange Geschichte erzählen könnten. Durchbrochene Stellen in der Fassade wurden nachträglich ausgespachtelt, an manchen Wänden waren schwach die Reste alter Tapeten zu erkennen und ein paar Stufen der breiten Marmortreppe bröckelten bereits ab. Obwohl das Gebäude inzwischen dem sterilen Beigeschmack einer Schule entsprach, konnte Grave die einst heimelige Atmosphäre weiterhin spüren. "Hier ist es. Steve Dowell wartet drinnen", kam es gurgelnd aus den vernarbten Lippen des Kaleas und er öffnete die Tür zu Graves Klassenraum. Einem weitläufigen, leeren Zimmer mit einem Schwebe-Pult, einer blauglänzenden Schreibtafel und Wandregalen voller Ordner. In der Ecke entdeckte Grave mehrere Geräte, eine Art Injektionsständer, und Matten wie für einen Yoga-Kurs. Es gab auch einen Kamin aus weißem Glanzgestein, doch der schien lange nicht mehr benutzt. Vor dem Pult stand ein grauhaariger, hochgebauter Mann mit langen Nasenlöchern, aus denen weiße Haare stachen, und leichten Segelohren. Er hatte zwar gehört, dass die Tür geöffnet worden war, doch er sah nicht von den Notizen auf, die er gerade machte. Langsam trat Grave näher. Er sah noch immer nicht auf. Grave räusperte sich. Er schrieb weiter. „Guten Tag", brachte Grave jetzt mühsam hervor und ihre Worte erklangen in der Stille wie ein Trommelschlag. Nichts. „Ich bin Gravity", schluckte sie. Der Zeitarzt hielt inne. „Ich kann dich hören", schnitt seine Stimme glasklar durch die Stille, doch er blickte nicht auf. „Siehst du nicht, dass ich gerade schreibe?" „Doch, Entschuldigung." Er setzte seine Notizen fort und Grave witterte, dass sie an einen sauren Apfel geraten war. Während sie in dem Zimmer stand wie ein Paket, das niemand abgeholt hatte, malte sich Grave innerlich aus, was sie in die Postkarte an Henri schreiben würde. „Bist du auf direktem Weg hergekommen?", riss die nüchterne Stimme des Zeitarztes Grave aus ihren Briefplanungen. Er klappte den Ordner zu und seine silbergrauen Augen trafen Grave wie Blitze, die durch jede Materie dringen konnten. „Ja", nickte Grave sofort. Sie wollte diese Postkarte schreiben, und zwar zeitnah, also straffte die Schultern und suchte vergebens nach einem Ort, an dem sie ihre zittrigen Finger verstecken konnte. Sie kreuzte die Arme hinter dem Rücken, was dem Abbild eines folgsamen Soldaten entsprach, eigentlich aber nur ihre Hände verbergen sollte. Der Zeitarzt blickte auf seine Armbanduhr. „Das hat aber lange gedauert." „Ich habe es nicht sofort gefunden, tut mir leid", entschuldigte sich Grave rasch. „Pünktlichkeit gehört hier zu den Grundprinzipien. Ich erwarte, dass du zu jedem Unterricht pünktlich erscheinst. Wo ist deine Uhr?", prüfte er, den Kopf reckend, sodass er hinter Graves Rücken spähen konnte und seine aufmerksamen Augen wanderten zu ihrem nacktem Handgelenk. „Meine Uhr?", stammelte Grave. Sie schob ein Lächeln hinterher und hoffte, dass sie wenigstens sympathisch wirkte. „Hast du dein Startpaket nicht geöffnet?", fragte er mit der Stimme eines Generals. Grave war sich sicher: Dieser Mann entstammte einer anderen Zeit. Einer Zeit, in der die Todesstrafe verbreitet war und in der Schüler noch vom Lehrer geprügelt wurden. „Ich habe mein Startpaket geöffnet", log sie. „Wo ist dann deine Uhr?", fragte er mit eiserner Schärfe. „Äh, ich hab' sie auf mein Bett gelegt." Graves Stimme war jetzt so dünn wie Papier, was nicht daran lag, dass sie sich grundsätzlich vor strengen Lehrern fürchtete (mit solchen hatte sie schon reichlich Erfahrung gesammelt), sondern daran, dass sie ihre Postkarte bereits entgleiten sah. „Wofür? Damit dein Bett die Uhrzeit lesen kann?", erkundigte er sich. Der Zeitarzt sprach so ernst, dass Grave nicht abschätzen konnte, ob er einen Scherz gemacht hatte. Sicherheitshalber ließ sie das Lächeln diesmal ausfallen. „Nein, als ich hergekommen bin, hat mir niemand gesagt, dass ich die Uhr anlegen soll. Außerdem bin ich, das können sie vielleicht verstehen, ein wenig neben der Spur, seit ich erfahren habe, dass ich gestorben bin und jetzt hier lebe. Unter normalen Umständen wäre ich imstande gewesen, eine Uhr an meinem Handgelenk anzubringen." Diese nüchterne Erklärung schien dem Zeitarzt mehr zuzusprechen als das verlegene Gestotter von zuvor. Er nickte. „Das ist dein Stundenplan." Der Zeitarzt zog ein dünnes Papier aus dem Ordner, der aufgeschlagen auf seinem Pult lag. Dabei erkannte Grave, dass der Ordnerrücken ihren Namen trug. Falsch geschrieben. Gravity Siverson. Das T ihres Nachnamens fehlte und kurz überlegte Grave, ob sie das Missverständnis korrigieren sollte, doch dann sah sie die Adleraugen des Zeitarztes, traute sich kaum zu sprechen und nahm das seltsam dehnbare Papier entgegen. Ihre zittrigen Finger ließen es heftig wackeln. Sie schielte hinunter.
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Xenna - Kinderheim der Toten
Fantasy"Wir töten nicht. Ihr kamt schon tot zu uns." Die junge Kanadierin Gravity Siverston und ihr Freund Henri Marsburg freuen sich Weihnachten 1999 auf harmonische Feiertage mit der Familie in den kanadischen Rocky Mountains. Kurz vor der Jahrtausendwe...