„Haben Sie kein eigenes Cabo, oder weswegen fahren Sie immer mit dem Zug?", fragte Grave Bauer, während dieser das Tor zu Jonny City nur für die beiden öffnete, indem seine wulstigen Finger eine Zahlenkombination in das Sperrrad drehten. Der untere Teil des Geländes war menschenleer und das rote Flutlicht fiel einzig und allein auf ein paar Wachkalea mit Schlagstöcken, die Grave und Bauer beim Durchqueren genauestens im Visier hatten. „Vor meiner Zeit als Zeitarzt habe ich damals bei der Planung vom Zugnetz im Ministerium geholfen, drum schätze ich die Reichsbahn sehr", prahlte Bauer nostalgisch und seine dicken, kurzen Beine mussten auf dem Weg den Hügel hinunter doppelt so viele Schritte machen wie Grave mit ihren langen Fohlenbeinen. Bauer quatschte unentwegt, doch das störte Grave nicht. Im Gegenteil, seine Kommunikationsfreude harmonierte mit ihrem Glücksrausch und als sie den kleinen Bahnhof hinter den Zäunen von Jonny City erreicht hatten, plauderten die beiden sogar oberflächlich miteinander, was Grave bedauern ließ, dass sie von Dowell unterrichtet wurde. Es war kaum zu fassen, dass die beiden Männer von der selben Stellung waren. Der Bahnhof von Jonny City bestand aus einem einzigen, schlecht beleuchteten Gleis, einer weinrot glänzenden Kabine und ein paar Sitzbänken. Ringsherum war nichts als die dunkle, leere Weite der Landschaft. Während sie auf den Zug warteten, bekam Grave durch Bauers Erzählungen eine bessere Orientierung von ganz Xenna. Das gesamte, unterirdische Imperium war demnach in drei Landabschnitte wie Kontinente eingeteilt. Lucia, das westliche Land, das seine Grenze hinter Sura zog und sich dreihundert Quadratkilometer entlang durch den Westen erstreckte. Darin gab es noch keine bevölkerten Städte oder Dörfer, dafür aber das weite Gebirge Dark Edan, Industriegebiete und die vierzig Pfortenstationen an die Oberfläche. Souissen war der südliche Landabschnitt und überwiegend bekannt für die großen Anbauflächen der Lidrapflanze, die für das bekannte Getränk und andere Zwecke angebaut wurde, ähnlich wie Weinberge auf der Erde. Dort gab es nur vereinzelte Landdomizile und das populäre, luxuriöse Souissen Hotel, in dem sogar die Vatorax hin und wieder nächtigten. Jalevo, der Landabschnitt, in dem auch Grave lebte, besaß die größte Populationsdichte, und alle bedeutenden Städte befanden sich hier nah beieinander. Der Zugverkehr von Xenna reichte nicht über Jalevo hinaus, erlaubte es den Bürgern aber, innerhalb des Landes von Stadt zu Stadt zu fahren. Auch Thovin, Zuna Peak, Killiax, Haxeth und Monte Magriz waren Teile von Jalevo, und demnach würde Grave diesen Landabschnitt wohl nie verlassen. „Und wo wohnen Sie?", erkundigte sie sich, ahnungslos darüber, wohin die Zeitärzte nach Dienstschluss fuhren und wie sie ihre Freizeit gestalteten. „In Monte Magriz. Sehr schöner Ort", schwärmte Bauer. „Verdient man denn gut als Zeitarzt?", hakte Grave nach, doch in diesem Moment traf der Zug in Jonny City ein. Die Jalevo Reichsbahn war ein mattschwarzer, schwerer Dampfzug mit einem angehängten Schlepptender und mehreren Rauchkammertüren, aus denen blassgrüner Dampf Wolkenschwaden in die Luft zeichnete. Unter dem Führerstand war das Wappen des Imperiums eingemeißelt, die Räder kreischten fürchterlich und beim Anfahren in den Bahnhof schrillte die Dampfpfeife. Umso überraschter war Grave, wie edel der Zug innen aussah. Hinter Bauer stieg sie die Ausklapptreppe hinauf und zog sich an den Türstangen in den ersten, leeren Wagon. Dass in Jonny City drei Männer in mitternachtsblauen Gewändern ausstiegen, die das Wappen des Vatoraxhofes auf die Brust gestickt trugen, entging Grave. Sie fragte sich nicht, was die Männer auf ihrem Gelände wollten und bevor sie das Trio am Bahnsteig stehen sah, schlossen sich die Türen des Wagons wieder. Die Wände schmückte ein Gestein wie dunkles Eichenholz mit aufwendigen Schnitzereien. Die Lehnstühle waren mit rubinrotem Stoff wie Samt überzogen. An der Wagonwand war eine Stationskarte in bronzefarbigem Glas angebracht und die Uhrzeiten stimmen haargenau mit Graves Uhr überein. Jede halbe Stunde erreichte ein Dampfzug der Jalevo Reichsbahn die letzte Station Jonny City, und fuhr dann zurück, um eine Stunde später die erste Station Culver zu erreichen. Während sich der Zug jetzt von Jonny City entfernte, scheuerte der Fahrtwind seinen unsichtbaren Leib gegen die Wagonwände und pfiff durch jeden freien Winkel, doch Grave bemerkte das Pfeifen kaum. In Gedanken war sie bereits in Haxeth und tauchte völlig überraschend vor Henri auf, um ihm den besten Nachmittag seit ihrem Tod zu schenken. Sie malte sich bereits aus, auch Richard wiederzusehen und ihm dankbar um den Hals zu fallen. Bauer versank in seiner Zeitung, und ein Kontrolleur kam in den Wagon und warf einen kurzen, desinteressierten Blick auf die beiden, ehe er wieder verschwand. Die anderen Zuggäste, die zwischendurch hinzu stiegen, schienen ganz versunken in ihren eigenen Alltagstrott und niemand plauderte oder grüßte einander.
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Xenna - Kinderheim der Toten
Fantasy"Wir töten nicht. Ihr kamt schon tot zu uns." Die junge Kanadierin Gravity Siverston und ihr Freund Henri Marsburg freuen sich Weihnachten 1999 auf harmonische Feiertage mit der Familie in den kanadischen Rocky Mountains. Kurz vor der Jahrtausendwe...